
Helena Steinhaus ist Gründerin und Vorsitzende von Sanktionsfrei e. V., einem Verein, der sich für die Rechte von Menschen in der Grundsicherung einsetzt. Nach ihrem Studium der Kulturwissenschaften arbeitete sie als Servicekraft in einem Restaurant, bevor sie den Verein gründete, um Sanktionen zu bekämpfen und soziale Absicherung für alle zu fördern. Im Gespräch erklärt sie die geplante Grundsicherungsreform der Bundesregierung und deren Auswirkungen auf Betroffene.
Frau Steinhaus, aktuell übernimmt das Jobcenter die tatsächlichen Mietkosten für 12 Monate nach Beginn des Leistungsbezugs und in der Regel weitere sechs Monate während der Wohnungssuche. Was geschieht danach?
Es gibt die Möglichkeit, dass das Jobcenter auch über die Karenzzeit von 12 Monaten hinaus die Miete übernimmt. Voraussetzung ist, dass man nachweist, dass kein günstigerer Wohnraum verfügbar ist und man sich ernsthaft darum bemüht hat. Viele Betroffene wissen jedoch weder, dass es diese Möglichkeit gibt, noch, wie sie ihre Suchbemühungen korrekt dokumentieren sollen. Das Jobcenter informiert darüber nicht ausreichend. Dadurch kommt es selbst in Härtefällen zu Kürzungen. Manche Fälle konnten wir bei Sanktionsfrei im Nachhinein klären, aber juristische Unterstützung zu bekommen, ist für die Betroffenen oft schwierig.
Wie läuft das Kostensenkungsverfahren?
Es beginnt damit, dass die Betroffenen per Brief eine formelle Aufforderung zur Mietkostensenkung erhalten. Sie müssen glaubhaft nachweisen, dass sie sich um eine Senkung der Kosten der Unterkunft bemüht haben – etwa anhand von Wohnungsanzeigen, Besichtigungen, Absagen, fehlenden passenden Angebote oder sogar dem Versuch, die Vermieter:in um eine Mietsenkung zu bitten. Letzteres ist natürlich völlig absurd. Können die Betroffenen diese Bemühungen nicht ausreichend belegen, bleibt ihnen eine sechsmonatige Frist zum Umzug – wobei diese Frist nicht immer gewährt wird. Finden sie keinen günstigeren Wohnraum, zahlen viele die Differenz aus ihrem Regelsatz. Das betrifft 12 Prozent der Bürgergeldbeziehenden, die monatlich im bundesweiten Schnitt 119 Euro dazu zahlen müssen. Beide Werte sind im vergangenen Jahr gestiegen. Diese Differenz wird auch Wohnkostenlücke genannt – in Berlin lag sie im vergangenen Jahr sogar bei 160 Euro Zuzahlung aus der Grundsicherung.
Welche Auswirkungen hat dieses Verfahren?
Es führt zu Schulden und noch größerer Armut. Das schlägt sich im Alltag nieder, etwa beim Essen – und kann bis zur Obdachlosigkeit führen.
Wie stehen die Chancen, wenn sich Mieter:innen rechtlich gegen die Kürzung wehren?
HS: Sind die Beträge überschaubar, gibt es Erfolgsaussichten. Bei größeren Differenzen wird es schwieriger. In vielen Fällen können wir dennoch etwas erreichen – vor allem, wenn Unterlagen vorliegen, die erfolglose Wohnungsbemühungen belegen oder gesundheitliche Gründe dokumentieren, die einen Umzug unzumutbar machen.
Was soll sich nach den Plänen der Bundesregierung zur neuen „Grundsicherung“ ändern?
Während der Karenzzeit soll nur noch das 1,5-fache der angemessenen Unterkunftskosten übernommen werden. Sozialverbände warnen, dass dies zu mehr Obdachlosigkeit führen könnte. Der Grad der Betroffenheit hängt stark davon ab, ob die Personen auf unterstützende Strukturen zurückgreifen können – etwa Freund:innen oder Familie. Manche werden sicher Schlimmeres erfahren, als „nur“ eine Überschuldung.
Die Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) spricht von mafiösen Strukturen und Sozialbetrug mit sogenannten „Schrottimmobilien“ teils durch ausländische Banden und fordert dagegen die Einführung eines kommunalen Quadratmeterdeckels für die Kosten der Unterkunft. Welches Gewicht hat dieser Betrug gegenüber den massiv anderweitig erhöhten Mieten, die Millionen Menschen betreffen?
Die Idee eines solchen Deckels ist per se nicht schlecht: Er kann verhindern, dass kleine Wohnungen in schlechtem Zustand zu überhöhten Preisen vermietet werden, weil die Vermieter:innen davon ausgehen, dass das Jobcenter die Kosten sowieso übernimmt. Doch wenn die zu hohe Quadratmetermiete abgelehnt wird, schwinden damit auch die Chancen, den Zuschlag für die Wohnung zu bekommen. Wenn die Mieter:innen sich bereits in einem überteuerten Mietverhältnis befinden, müsste praktisch ein Rügeverfahren geführt werden, um einen solchen Deckel durchzusetzen. Das darf nicht zulasten der Mietenden gehen. Doch es sind ja die Mieter:innen, die Vertragsnehmende sind und nur sie können bislang rügen, zum Beispiel bei der Mietpreisbremse. Dem steht immer auch die Sorge um den Verlust der Wohnung gegenüber. So finden sich Betroffene in einer druckvollen Situation wieder, die dann von zwei Seiten ausgehen – vom Vermieter und vom Jobcenter.
Es ist hochproblematisch, dass Ministerin Bärbel Bas mit einer betrügerischen Erzählung seit ihrem ersten Interview den Ton gesetzt hat. Im vergangenen Jahr wurde nur 421 Verdachtsfällen nachgegangen, was nicht heißt, dass dazu auch Urteile gesprochen werden konnten. Diese Zahl belegt, dass wir es mitnichten mit einem strukturellen Problem zu tun haben. Ein strukturelles Problem ist hingegen, dass Menschen im Bürger:innengeldbezug in Armut leben und ihre Miete regelmäßig nicht zahlen können. Darauf hätte die Ministerin den Fokus richten sollen.
Können die Einsparungsversprechen der Reform von Union und SPD wirklich eingehalten werden?
Es wird Panik vor steigenden Kosten geschürt, ohne den Kontext der gesamten Wirtschaftsleistung zu betrachten. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Bürgergeldausgaben ist in den letzten Jahren gesunken. Noch vor einem Jahr versprach die CDU, mit der Reform 30 Milliarden Euro einzusparen. Heute räumt das Arbeitsministerium ein, dass allenfalls minimale „sekundäre Einspareffekte“, etwa durch Vermittlung in Arbeit, zu erwarten sind. Doch es gibt keine Hinweise darauf, dass Verschärfungen im Bürgergeld tatsächlich zu mehr Beschäftigung führen.
Vor dem Hintergrund der geplanten Reformen im Bürgergeld, wie strengeren Sanktionen, höheren Hürden bei den Kosten der Unterkunft oder einem Quadratmeterdeckel, stellt sich die Frage: Welchen Effekt haben die Verschärfungen auf die Gesellschaft und welche Rolle spielen die Wohnkosten in diesem Gesamtbild?
Die Verschärfungen reichen weit über die direkt Betroffenen hinaus und wirken tief in die Gesellschaft hinein – bis ins mittlere Lohnsegment. Wenn die Grundsicherung quasi als Drohkulisse funktioniert, verschlechtert das die Verhandlungsposition von Beschäftigten gegenüber ihren Arbeitgeber:innen: Wer weiß, dass im Falle eines Jobverlustes oder eines Konflikts mit dem Arbeitgeber sofort härtere Regeln und Sanktionen greifen, akzeptiert eher schlechte Arbeitsbedingungen o der niedrigere Löhne.
Wohnen ist einer der grundlegendsten Lebensbereiche. Werden ausgerechnet hier die Regeln verschärft, erhöht sich die soziale Unsicherheit für alle, die ohnehin schon mit hohen Mieten kämpfen. Wer schon mal um seine Wohnung kämpfen musste, kann das am besten nachvollziehen.
Wird die Reform verfassungsrechtlich standhalten?
Die geplante Kürzung während der Karenzzeit ist vermutlich nicht anfechtbar – auch wenn sie sozialpolitisch fragwürdig ist. Anders sieht es bei der geplanten Streichung der gesamten Mietzahlung nach dem vierten verpassten Termin aus. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Hartz-IV-Urteil unmissverständlich klargestellt, dass Sanktionen niemals die Kosten der Unterkunft betreffen dürfen. Die Bundesregierung versucht nun, dieses klare Urteil zu umgehen. Statt die Sanktion als Leistungsminderung nach Paragrafen 31 oder 32 SGB II zu deklarieren, für die die Rechtsprechung eindeutig ist, will sie vermutlich auf andere Paragrafen ausweichen, über die bisher nicht verfassungsrechtlich geurteilt wurde.
Wie könnte die Wohnkostenübernahme besser geregelt werden?
Angemessenheitsgrenzen sind grundsätzlich sinnvoll, aber sie müssen realistisch sein. Die Mieten sind in den vergangenen fünf bis zehn Jahren stark gestiegen. Das ist nicht die Schuld der Leistungsbeziehenden, sondern ein Ergebnis von Politikversagen. Deshalb müssen die Angemessenheitsgrenzen angehoben und zum Beispiel konsequent an die regionalen Mietspiegel angepasst werden.
Noch wirkungsvoller wäre es jedoch, die Ursachen anzugehen: horrende Mieten zu verhindern und den sozialen Wohnungsbau endlich wieder ernsthaft auszubauen – etwas, das seit Jahrzehnten vernachlässigt wurde. Das Problem ist komplex und lässt sich nicht mit einer Maßnahme lösen. Mit einer klugen Wohnungspolitik ließen sich mittelfristig sogar Einsparungen im sozialen Bereich erzielen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Moritz Lang
15.12.2025




