Bettina Stein ist Berlinerin durch und durch. Geboren im Wedding, zog sie in der Wollankstraße ihre Töchter groß – doch genau dort soll sie jetzt weg. Der Grund: Das Jobcenter hält ihre Wohnung für „nicht angemessen“. Zu groß, zu teuer für die Miettabelle.
Im Februar 2024 erhält Bettina Stein ein Schreiben aus der Leistungsabteilung: Innerhalb von sechs Monaten müsse sie ausziehen. Die Miete liege über den Grenzen des Berliner Regelwerks „AV Wohnen“. Was folgt, ist massiver Druck – auf eine Mieterin, die ohnehin täglich um ihr Auskommen kämpft.
Stein lebt mit ihrer minderjährigen Tochter in einer Dreizimmerwohnung einer ehemaligen Sozialbausiedlung. Die ältere Tochter ist ausgezogen und studiert. Stein ist chronisch erkrankt und hat einen Schwerbehindertenausweis mit einem Grad von über 50 Prozent. Doch all das schützt sie nicht vor drohender Wohnungslosigkeit.
Die Bruttokaltmiete liegt heute bei 932,75 Euro – rund 250 Euro mehr, als das Jobcenter für einen Zwei-Personen-Haushalt akzeptiert. Vor 20 Jahren zahlte sie 605 Euro. Heute kostet bereits eine Zwei-Zimmer-Wohnung im selben Haus über 900 Euro. Die Sozialbindung der Gebäude ist vor einigen Jahren ausgelaufen, der Vermieter – ein Generalunternehmer – erhöht seither regelmäßig die Mieten, kümmert sich aber kaum noch um die Instandhaltung. Schäden in langjährig vermieteten Wohnungen bleiben unbeachtet, während leerstehende Wohnungen vollsaniert und als WG-Zimmer für je 600 Euro angeboten werden. Ein lukratives Geschäft.
Was plant die neue Bundesregierung?
Im neuen Koalitionsvertrag von CDU und SPD heißt es: „Dort, wo unverhältnismäßig hohe Kosten für Unterkunft vorliegen, entfällt die Karenzzeit.“ Bislang galt für Empfänger:innen von Bürgergeld eine einjährige Karenzzeit, innerhalb derer die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung übernommen wurden – unabhängig von ihrer Angemessenheit. Künftig soll laut dem Koalitionsvertrag von Union und SPD diese Regelung entfallen.
Das bedeutet: Bürgergeldempfänger:innen, die in zu teuren oder zu großen Wohnungen leben, müssen entweder eine angemessene Wohnung suchen oder die über dem anerkannten Satz liegenden Mietkosten aus dem Grundsicherungsbetrag – derzeit maximal 563 Euro monatlich im Regelbedarf – aus eigener Tasche zahlen. Auch bei bislang angemessenen Wohnungen kann die nächste Mieterhöhung demnach künftig eine Angemessenheitsprüfung auslösen.
Besonders in Städten wie Berlin, in denen Mieterhöhungen an der Tagesordnung sind und kaum noch preisgünstige Wohnungen zu finden sind, halten Sozialverbände und Mieterorganisationen diese Pläne für realitätsfern. Sie warnen vor einer wachsenden Belastung für einkommensschwächere Haushalte sowie vor einer Zunahme der Wohnungslosigkeit. Schon jetzt liegt die sogenannte Wohnkostenlücke – also die Differenz zwischen tatsächlicher Miete und dem vom Amt anerkannten Betrag – bundesweit im Durchschnitt bei 103 Euro, in Berlin sogar bei 160 Euro monatlich.
Zwischen Systemversagen und Diskriminierung
Bettina Stein steht unter doppeltem Druck: vom Jobcenter und vom Wohnungsmarkt. Ihre psychische Belastung wächst. Die Wohnungssuche gestaltet sich aussichtslos. Als Bürgergeldempfängerin stößt sie auf systematische Ablehnung – bei Besichtigungen lehnt man sie ab, sobald sie ihren Leistungsbescheid vorlegt. Das passe „nicht in die Hausgemeinschaft“, heißt es. Ein Vermieter fragte am Telefon, ob der Vater ihrer Töchter „Ausländer“ sei – man habe damit schlechte Erfahrungen gemacht. Beide Töchter tragen Vornamen, die nicht deutsch klingen. Stein fühlt sich wie eine Bürgerin dritter Klasse. Diskriminierung bei der Wohnungssuche ist weit verbreitet, aber schwer nachzuweisen und rechtlich daher kaum zu verfolgen.
Zwar setzt sich die Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung im Bezirksamt Mitte für Bettina Stein ein, doch rein rechtlich scheint kein Spielraum vorhanden. Die Mietobergrenzen in der Miettabelle gelten formal, obwohl sie auf dem Berliner Wohnungsmarkt kaum realistisch sind – nicht einmal im Umland. Das Jobcenter schlägt sogar Untervermietung vor und verlangt lückenlose Nachweise über die erfolglose Wohnungssuche. Trotz des Einsatzes der Beraterin im Bezirksamt hat Stein keine offizielle Verlängerung für den Verbleib in ihrer Wohnung erhalten. Immerhin bewilligte das Jobcenter im Februar 2025 ihre Grundsicherung und die Kosten der Unterkunft bis Februar 2026. Die Wohnungssuche geht weiter und die Unsicherheit bleibt: Bewilligungsbescheide können jederzeit widerrufen werden.
Bettina Steins Geschichte ist kein Einzelfall. Sie steht für das strukturelle Versagen einer Stadt, in der Subjektförderung – wie die Kosten der Unterkunft (KdU) im Rahmen des Bürgergeldes – mit der Realität steigender Mieten nicht Schritt hält. Das Jobcenter griff bei Stein wohl auch wegen gestiegener Betriebskosten und den Mieterhöhungen der letzten Jahre ein – wie auch bei anderen Nachbar:innen im Haus. Helfen können nur mehr preisgünstige Wohnungen mit dauerhafter Sozialbindung und eine gesetzliche Mietdeckelung. Auch die Miettabellen der AV Wohnen müssten an die Realität angepasst werden. Der Ankauf neuer Belegungsrechte für die Bezirke im frei finanzierten Wohnungsbau und eine höhere Vermietungsquote zugunsten von WBS-Berechtigten bei den landeseigenen Wohnungsunternehmen könnten die Lage zumindest für Mieter:innen wie Bettina Stein vorübergehend entschärfen. Wichtig wäre zudem, dass der Senat für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen das Wohnraum-Sicherungsgesetz voranbringt, das auch privatwirtschaftliche Wohnungsunternehmen in die Pflicht nehmen soll, Sozialwohnungen bereitzustellen. CDU und SPD haben ein solches Gesetz im Berliner Koalitionsvertrag vereinbart.
Teuer für den Staat, entwürdigend für die Menschen
Zwar sind in Berlin die Genehmigungen für Sozialwohnungen wieder gestiegen, doch bis die Wohnungen fertig sind, wird es für Bettina Stein voraussichtlich zu spät sein. Zudem reichen die 5.188 Genehmigungen bei den geförderten Wohnungen, die die Investitionsbank Berlin IBB kürzlich meldete, nicht im Ansatz aus, um die auslaufenden Sozialbindungen der letzten und kommenden Jahre zu kompensieren. Ehemalige Sozialwohnungen verschwinden nach Auslaufen der Bindungen vom herkömmlichen Mietwohnungsmarkt und werden hochpreisig weitervermietet. Das Geschäft mit zimmerweiser Vermietung und Kleinappartements boomt. Zahlreiche Vermietergesellschaften und Co-Living-Unternehmen wie Habyt, Wonderflat & Co. haben sich in Berlin das Modell zu eigen gemacht.
Daniela Radlbeck, wohnungspolitische Referentin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin, ordnet Steins Fall ein: „Das ist leider kein Sonderfall, sondern ein Skandal: Menschen wie Frau Stein, die aufgrund einer Erkrankung auf Transferleistungen des Staates angewiesen sind, werden durch starre Regelwerke, einen diskriminierenden Wohnungsmarkt und die Wohnungsnot in die Enge getrieben. Die Aussicht, mit ihrer minderjährigen Tochter in ein Wohnheim für Wohnungslose ziehen zu müssen – zu durchschnittlichen Kosten von rund 30 Euro pro Person und Tag – ist nicht nur teurer für den Staat, sondern entwürdigend für die Betroffenen. Wir brauchen hier unbedingt weitere effektive Instrumente, um den Mietmarkt so zu regulieren, dass einkommensschwächere Menschen ihre Wohnung nicht verlieren.“
Was Bettina Stein will, ist nicht viel: ein sicheres Zuhause für sich und ihre Tochter – in dem Kiez, in dem ihre Wurzeln liegen.
fs
16.04.2025