Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der die Räum- und Streupflicht Verletzende und für die Sicherheit eines Verkehrswegs Verantwortliche durch die Pflichtverletzung die maßgebliche Ursache für einen Unfall setzt, der sich infolge der nicht beseitigten Gefahrenlage ereignet. Ein die Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen ausschließender, weit überwiegender Verursachungsbeitrag des Geschädigten kann nur angenommen werden, wenn das Handeln des Geschädigten von einer ganz besonderen, schlechthin unverständlichen Sorglosigkeit gekennzeichnet ist.
BGH vom 1.7.2025 – VI ZR 357/24 –
Langfassung im Internet hier: www.bundesgerichtshof.de [PDF, 12 Seiten]
Die 80 Jahre alte Klägerin machte gegen den Eigentümer eines Grundstücks Schadensersatzansprüche wegen behaupteter Verletzung der Streupflicht geltend.
Am fraglichen Tag lag die Außentemperatur in H. um 0° C. Die Klägerin behauptete, sie sei an diesem Tag gegen 15:15 Uhr auf dem vereisten und deshalb durchweg spiegelglatten Bürgersteig vor dem Grundstück des Beklagten gestürzt. An der Sturzstelle habe sich eine derart dicke, nicht durch Schnee bedeckte Eisschicht gebildet, dass nach Einschätzung ihres Begleiters, des Zeugen S., seit Tagen nicht mehr gestreut worden sei. Die Eisglätte habe sie vor dem Sturz zwar noch bemerkt und unverzüglich die Straßenseite wechseln wollen. In diesem Moment sei sie jedoch schon gestürzt, was zu diversen Verletzungen und Beschwerden geführt habe. Der Zeuge S. sei ebenfalls hingefallen, habe sich jedoch nicht nennenswert verletzt. Der Beklagte hingegen behauptete, er habe am Morgen des Unfall-Tages die komplette Gehwegfläche vor seinem Anwesen geräumt und gestreut.
Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen, unter anderem mit der Begründung, es liege ein Mitverschulden der Klägerin vor, das eine Haftung des Grundstückseigentümers völlig ausschließe. Wer sich sehenden Auges den Gefahren eines nicht oder schlecht gestreuten Weges aussetze, obwohl ihm ein weniger gefährlicher Weg ohne weiteres zur Verfügung stehe, sei für die Folgen eines Sturzes allein verantwortlich.
Im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde widersprach der BGH dieser Deutung des Landgerichts und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.
Ein Mitverschulden des Unfallopfers, welche eine Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen völlig ausschließe, könne nur angenommen werden, wenn das Handeln des Geschädigten von einer ganz besonderen, schlechthin unverständlichen Sorglosigkeit gekennzeichnet sei. Mindest-, aber nicht alleinige Voraussetzung für die Annahme einer schlechthin unverständlichen Sorglosigkeit des Geschädigten bei „Glätteunfällen“ wegen Verletzung der Streupflicht sei es, dass sich dieser einer von ihm erkannten erheblichen Gefahr bewusst ausgesetzt habe. Für ein die Haftung minderndes oder gar ausschließendes Mitverschulden des Geschädigten sei dabei nach allgemeinen Beweislastregeln und ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig der Schädiger darlegungs- und beweispflichtig.
Hier liege der Fehler des Landgerichts darin, dass es meinte, die Klägerin habe „bei der gebotenen Achtsamkeit in eigenen Angelegenheiten“ bereits vor Betreten der Eisfläche „damit rechnen müssen“, dass diese sehr glatt gewesen sei. Damit sei es rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass die bloße Erkennbarkeit der Eisglätte genüge, den Verursachungsbeitrag des die Gefahr durch eine Pflichtverletzung begründenden Schädigers gegenüber dem Verursachungsbeitrag des Geschädigten vollständig zurücktreten zu lassen. Dieser Fehler sei entscheidungserheblich, weil die Klägerin nach den tatbestandlichen Feststellungen des Berufungsgerichts vorgetragen habe, dass sie in dem Moment, als sie bemerkt habe, dass die Fläche glatt gewesen sei und deshalb unverzüglich die Straßenseite habe wechseln wollen, schon ausgerutscht sei. Ihrem Vortrag zufolge habe sie die Glätte also nicht schon vor dem Betreten der Eisfläche erkannt, sondern erst, als sie sich auf dieser befand.
28.10.2025




