Frau Mertgen zog in die Pro Seniore Residenz, um ihren Alltag zu entlasten – nun klagt die Betreiberin gegen sie. Bei teils mangelhaften Leistungen verlangt sie rund das Doppelte der ortsüblichen Miete. Frau Mertgen beruft sich auf Mietrecht und Mietminderung. Der Fall zeigt, wie rechtliche Grauzonen im Service-Wohnen zulasten älterer Menschen genutzt werden.
Wieso hat sie sich überhaupt für diese Residenz entschieden? „Die Frage stelle ich mir mitunter selbst“, sagt Frau Mertgen. Vor ihrem Umzug wohnte sie in einer großen Mietwohnung in Wilmersdorf. Sie wollte sich verkleinern, ihren Kindern nicht zur Last fallen und im Bedarfsfall eine Option auf gesundheitliche Betreuung haben. Also schaute sie sich systematisch Berliner Senior:innenheime an.
Die Pro Seniore Residenz überzeugte sie schließlich mit dem Versprechen einer eigenen Wohnung kombiniert mit einem Restaurant, Gemeinschaftsräumen, regelmäßiger Reinigung, Aktivitäten und einem Notruf-Service. Auch die Besichtigung bestätigte dieses Bild. Anfang 2024 zog sie ein.
Doch schon bald zeigte sich, dass einige der vertraglich vereinbarten Angebote nur eingeschränkt existierten. Das nahm Frau Mertgen zum Anlass, das gesamte Mietverhältnis zu überprüfen.
Wohnen oder Pflege?
Juristisch dreht sich der Fall darum, ob Mietrecht anzuwenden ist – oder das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG). Die Betreiberin argumentiert, es handele sich nicht um ein Mietverhältnis, sondern um ein frei gestaltbares Nutzungsverhältnis inklusive Dienstleistungen. Deshalb finde das Mietrecht keine Anwendung.
Frau Mertgen sieht das anders und wird dabei von ihrer Rechtsberaterin Cornelia Schönefuß im Berliner Mieterverein unterstützt. Betreutes Wohnen ist kein geschützter Begriff. In der Praxis bedeutet es aber meist: Eigener Haushalt mit zusätzlichen Grund- und Wahlleistungen, oft durch private Anbietende oder Wohlfahrtsverbände bereitgestellt. Diese Verträge fallen unter das Gesetz zur Regelung von Verträgen über Wohnraum mit Pflege- oder Betreuungsleistungen (WBVG).
Entscheidend ist das Gewicht der Leistungen. Wenn die angebotenen Serviceleistungen im Vergleich zur Wohnnutzung klar untergeordnet sind, gilt das Mietrecht. Genau das deutet die Betreiberin selbst an: Sie geht in ihren Unterlagen von einem Verhältnis von 70 Prozent Wohnen zu 30 Prozent Dienstleistungen aus. Damit überwiegt eindeutig das Wohnen.
20 oder 40 Euro pro Quadratmeter?
Wenn also das Mietrecht Anwendung findet, ist auch die Miethöhe gesetzlich geregelt. Nach einer großzügigen Berechnung von Kaltmiete, Betriebs- und Heizkosten, Strom und einer Servicepauschale von üblicherweise 20 Prozent ergäbe sich hier eine zulässige Miete von etwa 1.340 Euro. Tatsächlich verlangt die Betreiberin jedoch 2.530 Euro für 63 Quadratmeter – also fast das Doppelte und umgerechnet nahezu 40 Euro pro Quadratmeter.
Zudem versuchte die Betreiberin Anfang des Jahres, eine weitere Mieterhöhung durchzusetzen – unter Verweis auf die Entwicklung des Verbraucherpreisindex und der Löhne. Im Vertrag ist jedoch eine Indexklausel gar nicht vereinbart. Nach Widerspruch wurde die Erhöhung wieder zurückgenommen. Doch man will sich nicht vorstellen, wie viele Nachbar:innen von Frau Mertgen lieber zahlen, statt sich zu wehren.
Ist die Servicepauschale gerechtfertigt?
Dass es sich nicht um ein Mietverhältnis handelt, begründet die Betreiberin mit den „umfassenden Serviceleistungen“. Doch bei genauer Betrachtung entpuppt sich vieles als Mogelpackung:
Gemeinschaftsräume: Im Vertrag ist von mehreren Räumen zur „Begegnung und Teilnahme an Gemeinschaftsaktivitäten“ die Rede. Tatsächlich existiert jedoch nur ein Gemeinschaftsraum, und dieser ist für Bewohner:innen in der Regel nur während organisierter Veranstaltungen zugänglich.
Café Havelspitze: Als weiterer Begegnungsraum verweist die Betreiberin auf das „Café Havelspitze“. Mit Öffnungszeiten von lediglich rund drei Stunden an fünf Tagen in der Woche eignet es sich jedoch kaum als frei nutzbarer Treffpunkt.
Wöchentliche Reinigung: Für Frau Mertgen war die regelmäßige Reinigung ein wesentlicher Entscheidungsgrund. Tatsächlich ist jedoch nur eine etwa 45-minütige Oberflächenreinigung inklusive, bei der eigene Möbel oder persönliche Gegenstände nicht angefasst werden – laut Betreiberin aus „versicherungstechnischen Gründen“.
Förderung von Hausgemeinschaft und Selbsthilfe: Vertraglich zugesicherte Leistungen wie Unterstützung beim Aufbau einer Hausgemeinschaft, integrative Gemeinwesenarbeit oder die Koordination von Selbsthilfeaktivitäten finden nicht statt. Die Betreiberin verweist auf „Eigeninitiative“ der Bewohner:innen. Warum diese Leistungen dann dennoch vertraglich ausgewiesen und mit dem Entgelt abgegolten sind, bleibt unbeantwortet.
Kooperation mit Sportclub Siemensstadt: Auch die angegebene Kooperation mit dem Sportclub Siemensstadt bleibt ohne erkennbaren Inhalt. Weder Vergünstigungen noch organisierte Sportangebote für Bewohner:innen sind bekannt.
Kurz gesagt: Viele Leistungen, die den Preis rechtfertigen sollen, bleiben aus oder bestehen nur auf dem Papier.
Der Weg vor Gericht
Zum Jahreswechsel reduzierte Frau Mertgen die Miete eigenständig auf den nach Mietrecht zulässigen Betrag. Wenige Monate später erhielt sie einen Mahnbescheid über Zahlungsrückstände – zugestellt an die Verwaltungsadresse der Residenz, nicht an ihre eigene Wohnadresse. Im August folgte die Klage auf Nachzahlung.
Das Gericht äußerte früh Zweifel an der Zulässigkeit der Klage. Es fehle die sogenannte Aktivlegitimation: Die klagende Gesellschaft ist nicht identisch mit der im Vertrag genannten Vermieterin, die selbst nicht einmal im Handelsregister eingetragen ist. „Das fällt nur erfahrenen Juristen auf“, sagt Frau Mertgen. „Ich bin auch nicht davon ausgegangen, dass man erst einmal ins Handelsregister schauen muss, bevor man eine Wohnung mietet.“
Auch die Prozessvertretung wurde vom Gericht in Frage gestellt. Trotz dieser Mängel hält die Betreiberin an ihrer Klage fest. Der Verhandlungstermin ist für Anfang Dezember angesetzt.
„Ich will mir nicht nachsagen lassen, dass ich für das, was ich bekomme, nicht bezahle“, sagt Frau Mertgen. „Aber es soll alles rechtens sein. Notfalls gehe ich bis zum Bundesgerichtshof.“
Wer steckt hinter der Residenz?
Die Pro Seniore Residenzen gehören zur Victors Group. Nach eigenen Angaben betreibt die Firma mit rund 12.500 Mitarbeitenden 14 Hotels, Ferienhäuser, Eventlocations und über 130 Seniorenresidenzen mit rund 18.500 „Pflegeplätzen“. Ihr eigenes Sprachrohr unterhält die Gruppe als Verlegerin des konservativen „Forum“-Magazins, das unter anderem über Berliner Lokalpolitik berichtet. Ihr Geschäftsmodell basiert auf der engen Verknüpfung von Wohnraum und Dienstleistungen – ein Bereich, in dem klare gesetzliche Leitplanken fehlen.
Eigentümerin der Liegenschaft ist die Theseus Immobilien Verwaltungs GmbH & Co. KG – LBB Fonds Zwölf. Hinter dem kryptischen Namen steht ein Immobilienfonds, an dem das landeseigene Unternehmen Berlinovo laut seinem Finanzbericht 2024 zu 99,74 Prozent beteiligt ist. Unklar bleibt, in welchem Umfang der Berlinovo-Aufsichtsrat, dem auch Finanzsenator Stefan Evers (CDU) angehört, über die intransparenten Geschäftspraktiken der Betreiberin informiert ist.
Ein strukturelles Problem?
Der Fall zeigt exemplarisch, wie leicht Menschen in komplexe Vertragsstrukturen geraten können, die gezielt auf Intransparenz und die Scheu vor Konflikten ausgelegt sind. Es gibt kaum Strukturen, die Betroffene zielführend unterstützen. Eine SPD-Lokalpolitikerin hatte sich zunächst um das Thema gekümmert, fand jedoch nach Personalwechseln keine Ansprechpartner:innen mehr in der Verwaltung des Unternehmens. Die Verbraucherzentrale sah sich ebenfalls nicht zuständig.
Frau Mertgen gibt sich kämpferisch. „Ich bleibe dran“, sagt sie. Sie weiß, dass ihr Fall viele betrifft – Menschen, die im Alter einfach nur sicher wohnen wollen, ohne juristische Fallen und ohne überteuerte „Servicepakete“.
Damit das möglich ist, braucht es klare Regeln – und Unterstützung für diejenigen, die ihre Rechte einfordern.
ml
18.11.2025




