
2007 verabschiedeten die EU-Minister:innen die „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“, 2020 folgte die Neuauflage als „Neue Leipzig-Charta“. Heute steht sie für eine resiliente, grüne und produktive Stadt. In der Fachwelt viel diskutiert, ist sie im öffentlichen Bewusstsein kaum präsent. Wir sprachen mit Judith Nurmann, Stadtplanerin in Hamburg und bodenpolitische Sprecherin bei Architects for Future, über die Grundidee, Umsetzungshürden und ihre Relevanz in Zeiten von Klima- und Wohnungskrise.
Judith Nuhrmann, was ist die Leipzig-Charta, und warum wurde sie ins Leben gerufen?
JN: Stellt euch eine Stadt vor, in der bezahlbares Wohnen, Klimaschutz und lebendige Nachbarschaften kein Zufall sind, sondern das Ergebnis einer vorausschauenden Politik. Genau das ist die Idee der Leipzig-Charta. 2007 einigten sich die EU-Staaten erstmals auf gemeinsame Prinzipien für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Es ging nicht nur ums Bauen, sondern um das Zusammenspiel von sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Verantwortung und wirtschaftlicher Zukunftsfähigkeit. Die Charta ist ein europäisches Leitdokument und gilt als Bekenntnis zur gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung. Doch die Welt hat sich seitdem weitergedreht: Die Klimakrise verschärft sich, Wohnraum wird knapper, und die Digitalisierung verändert unser Zusammenleben. Deshalb verabschiedeten die EU-Staaten 2020 die „Neue Leipzig-Charta“.
Worauf zielt diese neue Charta ab?
JN: Die Charta basiert auf drei Leitprinzipien: die gerechte Stadt mit Fokus auf soziale Teilhabe und bezahlbaren Wohnraum, die grüne Stadt – klimaresilient, gesund und ökologisch nachhaltig – und die produktive Stadt mit einer funktionalen Mischung aus Wohnen, Arbeiten und Leben. Sie bietet fachliche und politische Orientierung für kommunale Akteur:innen und kann ein wichtiges Gegengewicht zu demokratiefeindlichen Tendenzen bilden.
Wie profitieren Bürger:innen direkt von den Maßnahmen, die durch die Charta inspiriert sind?
JN: Eine gerechte Stadt sorgt für stabile Mieten und weniger Verdrängung. Dafür brauchen Kommunen einen besseren Zugriff auf Flächen. Gleichzeitig spricht die Charta Bürger:innen neue Beteiligungsmöglichkeiten zu. Eine grüne Stadt verbessert das Klima in den Städten: weniger versiegelte Flächen, mehr grüne Rückzugsorte und öffentliche Räume, die an die Herausforderungen des Klimawandels angepasst sind. Und dazu noch die Möglichkeit, sich ohne Auto fortbewegen zu können, weil es gute Alternativen gibt. Eine produktive Stadt wiederum schafft Arbeitsräume, soziale Infrastruktur und ein funktionierendes Miteinander von Wohnen, Arbeiten und Freizeit. Städte, in denen Spekulation keinen Einfluss hat, sondern die ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den verschiedenen Bedürfnissen der Stadtbewohner:innen herstellen.
Darüber hinaus geht es auch darum, den demokratischen Zusammenhalt zu stärken und sicherzustellen, dass alle Menschen – unabhängig von Einkommen oder Herkunft – Zugang zu gutem, bezahlbarem Wohnraum haben. In Zeiten wachsender sozialer Spaltungen und politischer Polarisierung kann eine Stadt, die niemanden zurücklässt, ein Schutzschild gegen einen weiteren Rechtsruck sein. Doch während Expert:innen rund um Stadtentwicklung die Notwendigkeit solcher Veränderungen längst erkannt haben, hinken politische Debatten und gesetzliche Rahmenbedingungen hinterher.
Gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung ist das Schlüsselkonzept. Was bedeutet das für das Wohnen in europäischen Städten?
JN: Gemeinwohl klingt selbstverständlich – schließlich wollen die meisten Menschen Städte, die für alle lebenswert sind. Doch während der Verhandlungen zur Neuen Leipzig-Charta zeigte sich: Das deutsche Wort „Gemeinwohl“ lässt sich in viele europäische Sprachen gar nicht eins zu eins übersetzen. Ein Zeichen dafür, dass wir in Europa noch viel darüber diskutieren müssen, was der Begriff in der Stadtentwicklung konkret bedeutet.
Wie legen Sie diesen Begriff im Zusammenhang der Charta aus?
JN: Tilman Buchholz, der den Entstehungsprozess der Charta für das Bundesinnenministerium begleitete, formulierte es treffend: „Es geht um eine neue Balance zwischen Staat und Markt.“ Besonders angesichts der Wohnungskrise steht dieser Aushandlungsprozess im Fokus: Wie stark soll oder muss der Staat in den Wohnungsmarkt eingreifen, um gutes und bezahlbares Wohnen zu ermöglichen? Hier setzt die Charta an. Sie liefert keine fertigen Lösungen, macht aber klar: Städte brauchen Steuerungsmöglichkeiten – vor allem beim Wohnungsmarkt. Sie fordert gerechte Stadtentwicklung, lebendige und sozial gemischte Quartiere und die Stärkung kommunaler Hoheit über Flächen und Infrastruktur.
Was heißt das konkret?
JN: Städte sollen Spekulation mit Boden verhindern können, über die Nutzung ihrer Flächen selbst entscheiden und sicherstellen, dass Wohnraum an den Bedürfnissen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen ausgerichtet ist. Kurz: Wohnen darf kein Luxus sein.
Davon sind wir noch weit entfernt. Welche Herausforderungen gibt es bei der Umsetzung der Charta?
JN: Die Neue Leipzig-Charta ist kein Gesetz, sondern ein politisches Bekenntnis, ein Leitfaden, dem Städte folgen können – solange die nationalen Gesetzgeber keine verbindlichen Vorgaben schaffen. Von der EU gibt es keine Verpflichtung, die Charta in nationales Recht zu überführen – leider.
Eine der größten Hürden ist also der fehlende rechtliche Rahmen – auch in Deutschland. Besonders in der Bodenpolitik brauchen Städte mehr Kontrolle über strategisch wichtige Flächen. Doch vielerorts können sie gar nicht aktiv steuern. Oft müssen sie mit privaten Investor:innen um Grundstücke konkurrieren, denen sie finanziell unterlegen sind.
Auch bei der „grünen Stadt“ gibt es Hindernisse: Der Flächenverbrauch muss dringend begrenzt werden. Das Bauplanungsrecht setzt nach wie vor eher auf Neubau statt auf Umbau und Umnutzung – ein Thema, das in vielen Städten nur schleppend vorankommt.
Und worum geht es bei der „produktiven Stadt”?
JN: Die „produktive Stadt“ – also die Aufhebung der strikten Nutzungstrennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit – stößt ebenfalls auf Probleme. Wenn Immobilienpreise steigen, müssen immer mehr Arbeitsplätze – insbesondere in Handwerk, Kultur und sozialen Nutzungen – neuen, teuren Wohnprojekten weichen. Städte und Kommunen haben auch hier nur begrenzte Steuerungsmöglichkeiten beziehungsweise schrecken sie vor möglichen Entschädigungsansprüchen privater Eigentümer:innen (sogenannte Planungsschäden) zurück.
Welche Hebel gibt es, um das zu ändern?
JN: Die größte Schwachstelle der Neuen Leipzig-Charta ist natürlich ihre rechtliche Unverbindlichkeit. Selbst wenn Städte und Gemeinden die Prinzipien der Charta umsetzen wollen, fehlen oft die Mittel. Wirtschaftlicher und politischer Druck führen dazu, dass gemeinwohlorientierte Ziele schnell in den Hintergrund rücken. Zudem mangelt es an geeigneten Werkzeugen: Wie setzt man Stadtentwicklung um, wenn die Instrumente fehlen?
Es braucht also mehr als gute Absichtserklärungen. Ein entscheidender Hebel ist die Bodenpolitik. Wenn Städte in diesem Bereich nicht eigenständig agieren können, bleibt die Charta ein Papiertiger. Konkret heißt das:
- Eine umfassende Reform des Baugesetzbuchs, das aktuell oft eher bremst als hilft.
- Mehr finanzielle Unterstützung für sozialen Wohnungsbau, kommunale Wohnungsunternehmen, Genossenschaften und gemeinnützige Wohnungsbauträger:innen
- Stärkere Maßnahmen gegen Spekulation mit Boden und Immobilien.
Anne Hidalgo – Leuchtfigur mit Haltung zur Leipzig-Charta
Kaum eine europäische Bürgermeisterin steht so exemplarisch für den Geist der Leipzig-Charta wie Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris. Seit 2014 verfolgt sie eine ambitionierte Vision von Stadtentwicklung: sozial gerecht, klimagerecht und gemeinwohlorientiert.
Neben der viel beachteten Umgestaltung zur „15-Minuten-Stadt“, die auf kurze Wege, weniger Autoverkehr und lebenswerte Quartiere setzt, hat Hidalgo auch im Bereich Wohnen klare Zeichen gesetzt. Ihr Ziel: 25 Prozent sozialer Wohnraum bis 2025 – und zwar nicht nur in Randlagen, sondern auch in den zentralen und teuren Arrondissements der Stadt. Um dieses Ziel zu erreichen, kauft die Stadt gezielt Immobilien auf, wandelt leerstehende Gebäude in Sozialwohnungen um und geht entschlossen gegen Zweckentfremdung durch Kurzzeitvermietung vor.
Ihr Ansatz ist streitbar, aber konsequent – und steht für eine integrierte, sozial orientierte Stadtentwicklung, wie sie die Leipzig-Charta als europäischen Leitfaden beschreibt.
Wie setzen einzelne Städte die Prinzipien der Leipzig-Charta um?
JN: Berlin und Hamburg haben – wie viele europäische Städte – in Teilen erkannt: Der Wohnungsmarkt regelt sich nicht von allein. Berlin nutzte unter anderem das kommunale Vorkaufsrecht, um Wohnungen in Milieuschutzgebieten vor der Spekulation zu retten – bis dem gerichtlich ein Riegel vorgeschoben wurde. Beide Städte setzen mit Bündnissen auf Kooperation mit der Wohnungswirtschaft, um bezahlbare Wohnungen zu sichern. Doch in beiden Fällen zeigt sich schnell das Grundproblem: Solange Bodenpreise weiter steigen und gesetzliche Regelungen fehlen, haben weder Bündnisse noch Vorkaufsrechte tiefgreifende Auswirkungen in Richtung Gemeinwohlorientierung oder gar Gemeinwesen. Denn die potenziellen Wertschöpfungen wecken Begehrlichkeiten bei Kapitalanlegenden, gerade in unsicheren Zeiten. Auch das Berliner „Schneller-Bauen-Gesetz“ und die geplante Baugesetzbuch-Novelle des Bundes müssen sich vor diesem Hintergrund an den wichtigen Ansprüchen der Neuen Leipzig-Charta messen lassen.
Welche Rolle kann die Charta angesichts von Klimawandel und Wohnungskrise spielen?
JN: Die Neue Leipzig-Charta muss eine Mahnung an die Politik, insbesondere an das Bauministerium sein. Sie erinnert daran, auf welchem Weg wir uns eigentlich befinden sollten. In einer Zeit, in der fundierte Expertise immer häufiger von populistischen „Einfachlösungen“ übertönt wird, hat sie für uns als Architects for Future eine besondere Bedeutung. Sie ist ein wichtiges, wertvolles Argument – eine klare Erinnerung daran, dass nachhaltige Stadtentwicklung nicht über Nacht geschieht, sondern nur durch langfristiges, gemeinsames und faktenbasiertes Handeln erfolgreich wird.
Die Leipzig-Charta zeigt, dass Wohnen, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit zusammen gedacht werden müssen. Damit das gelingt, braucht es die richtigen politischen Rahmenbedingungen – insbesondere im Hinblick auf eine gemeinwohlorientierte Nutzung des Bodens.
Was braucht es für einen zukunftsgerichteten Kurswechsel in der Wohnungspolitik?
JN: Wir müssen weg vom Mantra „Bauen, Bauen, Bauen“ – hin zu „Boden, Boden, Boden“ – mit klaren Regeln gegen Spekulation, mehr Handlungsspielraum für Kommunen und einer BauGB-Reform zugunsten der Bestandsentwicklung. Wir betonen in diesem Zusammenhang immer wieder, dass sich Politik und Gesellschaft auf die Sozialpflichtigkeit des Eigentums besinnen sollten. Mein Wunsch für die nächste Legislatur wäre daher auch eine Baugesetzbuch Novelle unter dem Motto „Eigentum verpflichtet“. Schließlich steht das schon im Grundgesetz. Träumen darf man ja.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Franziska Schulte
16.04.2025