Josef Kaiser prägte die moderne Architektur der DDR und lieferte die Vorlage für den Massenwohnungsbau in Plattenbauweise. Als Leiter eines Entwurfkollektivs spielte er sich nicht in den Vordergrund. Sein Weg war alles andere als geradlinig.

Die Leichtigkeit der neuen DDR-Moderne: Das Café Moskau und die Mokka-Milch-Eisbar waren beliebt und in der ganzen Stadt bekannt
Foto: Sabine Mittermeier
Josef Kaiser betrat die große Bühne der Architektur mit einem Paukenschlag: Im Jahr 1959 bedeuteten seine Entwürfe für den zweiten Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee (damals noch: Stalinallee) eine radikale Abkehr vom monumentalen Zuckerbäckerstil, in dem die „erste sozialistische Straße Deutschlands“ gebaut worden war. Zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz plante Kaiser moderne, freistehende Wohnhäuser ohne Türmchen, Gesimse und Zierrat, außerdem gläserne Pavillons mit Gaststätten und Läden. Die Keramikverkleidung der Fassaden war die einzige gestalterische Verbindung zum gerade erst fertiggestellten ersten Abschnitt der Allee. Der Kontrast könnte kaum größer sein. Nach dem städtebaulichen Entwurf von Werner Dutschke sollte es statt eines repräsentativen Straßenkorridors mit beeindruckenden Platzräumen eine offene Bebauung an weiten Straßen geben. Der Plan beschränkte sich nicht auf die Magistrale, sondern umfasste das gesamte Gebiet von der Holzmarkt- bis zur Mollstraße mit 4674 Wohnungen.
Offene Bebauung statt eines Aufmarsch-Korridors
Die „neue“ Karl-Marx-Allee wurde von 1959 bis 1964 gebaut. Ihr Erscheinungsbild wird ganz von der Architektur Josef Kaisers geprägt. Das Kino International mit seiner verglasten Front war das Premierenkino der DDR. Das dahinter stehende, blau gekachelte Interhotel Berolina war für ausländische Gäste vorgesehen. Mit einer Glas- und Mosaikfassade strahlte das „Café Moskau“ eine Leichtigkeit aus, die in der Ost-Berliner Architektur bis dahin unbekannt war. Die „Mokka-Milch-Eisbar“ war ein beliebter Treffpunkt für die Berliner Jugend und wurde 1969 sogar in einem Schlager besungen. Auch die Geschäfte in den anderen Pavillons – Blumenhaus Interflor, Modesalon Madeleine, Kosmetiksalon Babette, Schuhhaus Zentrum und Kunst im Heim – wurden allen in der Stadt ein Begriff.

Die von Kaiser geplanten Gebäude der neuen Karl-Marx-Allee zogen einen Schlussstrich unter den sozialistischen Klassizismus seiner Vorgänger
Foto: Sabine Mittermeier
Für die Wohnhäuser setzte Kaiser den neuentwickelten Plattenbau-Typ QP ein – die erste Großtafel-Serie mit geschosshohen Wandplatten. Die Platten samt Kacheln wurden in einem Betonwerk in der Lichtenberger Hauptstraße vorgefertigt und mit Tiefladern zur Baustelle gefahren. Jede Wohnung bekam einen Balkon. Die Müllschlucker im Treppenhaus waren eine hochmoderne Errungenschaft. Die Aufzüge führen allerdings nur bis in die zweithöchste Etage, weil der gerade Dachabschluss nicht durch Aufbauten gestört werden sollte. An der Schillingstraße entstand außerdem nach Kaisers Entwurf ein 17-geschossiges Hochhaus mit 240 Einzimmerwohnungen, das zum Prototyp für viele Neubaugebiete werden sollte.
Was aus heutiger Sicht wie Dutzendware erscheint – ähnliche QP-Häuser wurden später in der DDR buchstäblich am Fließband produziert – erregte seinerzeit Aufsehen. Viele Menschen aus dem Kunst-, Literatur- und Wissenschaftsbetrieb zogen hier ein, auch Josef Kaiser selbst. Die Häuser und der außergewöhnlich breite Straßenraum galten auch als repräsentativ genug, um hier ab 1977 beim alljährlichen Aufmarsch zum 1. Mai die Tribüne für die Politprominenz aufzubauen.
Josef Kaisers Weg zur radikalen Moderne war verschlungen. Er wurde 1910 im österreich-ungarischen Cilli (heute Celje, Slowenien) geboren. 1929 nahm er ein Architektur- und Hochbaustudium in Prag auf. Nach dem Abschluss ging er nach Deutschland, wo damals seit zwei Jahren die Nationalsozialisten an der Macht waren. Zunächst arbeitete er als angestellter Architekt in Weimar. 1938 wechselte er nach Berlin ins Büro des renommierten Architekten Otto Kohtz, um kurze Zeit später eine Tätigkeit in der Bauabteilung der Deutschen Arbeitsfront aufzunehmen. Sein Chef war dort Julius Schulte-Frohlinde, ein sehr konservativer Heimatstil-Architekt. Josef Kaiser trat 1939 in die NSDAP ein – ob aus Überzeugung oder „nur“ zur Karriereförderung, ist unbekannt. Ab 1941 leitete er die Abteilung Grundrisstypenplanung an der Deutschen Akademie für Wohnungswesen in Berlin-Buch – eine rein theoretische Tätigkeit, denn der Wohnungsbau war kriegsbedingt komplett zum Stillstand gekommen.

Nicht erhalten geblieben: das von Kaiser entworfene Kino Kosmos
Foto: Sabine Mittermeier
Nach dem Krieg orientierte sich Kaiser beruflich neu. Nach einer Gesangsausbildung in Dresden trat er als Josef Sonngartner im Theater am Nollendorfplatz und im Theater Frankfurt/Oder als Tenor auf. Ins Baufach kehrte er 1951 zurück, als er in die Meisterwerkstatt von Hanns Hopp eintrat. Hopp war einer der ausführenden Architekten der Stalinallee. 1955 wechselte er zum Ost-Berliner Chefarchitekten Hermann Henselmann. Bemerkenswert ist, dass Kaiser zu dieser Zeit auch für westdeutsche Auftraggeber arbeitete und (erfolglos) einen Wohnhaus-Entwurf für das West-Berliner Hansaviertel einreichte – das direkte Konkurrenzprojekt zur Ost-Berliner Stalinallee.
Eine Bewerbung bei der „Konkurrenz“
Ab 1958 leitete er das Entwurfskollektiv des zweiten Bauabschnitts der Karl-Marx-Allee. Offiziell war er nur Abteilungsleiter und Projektant beim VEB Berlin-Projekt. Anders als Henselmann nahm Kaiser den Kollektivgedanken ernst. Nach Fertigstellung der Karl-Marx-Allee entwarf sein Kollektiv das Außenministerium der DDR und das Centrum-Warenhaus am Alexanderplatz, beide mit einer charakteristischen Aluminium-Lamellenfassade.

Josef Kaiser, der 1948 unter dem Künstlernamen Josef Sonngartner als Tenor am Berliner Theater am Nollendorfplatz aufgetreten ist
Foto: Wikipedia
1968 machte Kaiser einen wahrhaft utopischen Vorschlag: Er entwarf ein 1000 Meter langes und 100 Meter hohes „Großhügelhaus“ mit terrassenartig abgestuften Wohnungen für 20.000 Menschen. Im Inneren dieses Gebäudes sollten Produktionsbetriebe, Büros, Verkaufsflächen und die Verkehrswege Platz finden. Mit dieser Idee wollte der Architekt die Siedlungsfläche der Städte auf ein Fünftel bis ein Zehntel einschrumpfen und ein Leitbild schaffen, „in das die traditionelle Stadt allmählich hinüberwachsen muß, um die verlorengegangene Harmonie städtischen Zusammenlebens wiederzugewinnen“. Der Plan blieb Vision.
Ab 1973 war Kaiser als Berater im Hintergrund an der Konzipierung fast aller wichtigen Bauten Ost-Berlins beteiligt: Palast der Republik, Charité-Hochhaus, Sport- und Erholungszentrum, Internationales Handelszentrum, Friedrichstadtpalast, Palast-Hotel und Nikolaiviertel. Mitte der 80er Jahre setzte sich Josef Kaiser zur Ruhe. Er starb 1991 bei einem Autounfall im sächsischen Altenberg.
Jens Sethmann
Ein „Cafe Kyiv“ verhindert schon der Denkmalschutz
Die Ost-Moderne stand nach der Wende stark in der Kritik. Von Josef Kaisers Gebäuden sind das Hotel Berolina und das DDR-Außenministerium 1995/96 abgerissen worden. Das Kaufhaus am Alex ist nach einem Umbau nicht mehr wiederzuerkennen. Der zweite Abschnitt der Karl-Marx-Allee mit dem Kino International, dem Café Moskau und den Pavillons wurde hingegen 1990 als „herausragendes Beispiel für die Entstalinisierung der Architektur in den sozialistischen Ländern“ unter Denkmalschutz gestellt. Die Wohnhäuser direkt an der Allee sind von der landeseigenen WBM denkmalgerecht saniert worden. Das Kino International ist – anders als das ebenfalls von Kaiser entworfene Kino Kosmos – als Lichtspielhaus erhalten geblieben. Das Café Moskau stand ab 1994 mehrere Jahre leer und ist heute ein Ort für Veranstaltungen. Forderungen, es nach dem russischen Angriff auf die Ukraine in „Café Kyiv“ umzubenennen, trafen auf wenig Verständnis. Schon der Denkmalschutz, der auch die kyrillischen und lateinischen Buchstaben auf dem Dach mit im Blick hat, steht dagegen.
js
01.10.2025




