Baller, Baller, Baller, dreimal zeigt das Klingelschild den Namen an: Die Architektin Inken Baller, eine Tochter und ein Enkelsohn wohnen in einem ehemaligen Hinterhaus, einst klassisches Kiezmilieu, wo etwa der Maler Heinrich Zille das Überleben im Großstadtmoloch dokumentierte. Berlin mit seinem kriegszerstörten Narbengesicht, mit seinen geräumigen Altbauwohnungen, in denen in früheren Zeiten gedrängt die Familien mit ihren vielen Kindern und womöglich noch einem Schlafburschen hausten, zog das Architektenpaar Inken und Hinrich Baller magisch an. „Weiterbauen“ wurde zu ihrem Lebensmotto: verändern, neu denken, neu planen, neue Grundrisse, neues Leben. Und das alles mit und in einer Konstruktion, die sichtbar bleibt.

Foto: Inken Baller
Inken Baller, offener Blick, kein Make-up, die Haare schwingend kinnlang, bittet in ihre Erdgeschosswohnung. Ein eigens entworfener und gebauter Windfang ersetzt die Diele und „spart mindestens 20 Prozent der Heizkosten“, so die Hausherrin. Eine Fensterfront in der ehemaligen Brandwand gibt, fast bodentief, den Blick frei in das bunte Laub der Hasenheide. An den Wänden hängt moderne Kunst. Inken Baller: „Wir haben immer das Außen mitgedacht, den Bezug zur Straße, denn so wurde ja in Berlin viel gebaut, mit Balkonen und Erkern.“ Auf dem Tisch liegt ein schmaler rororo-Band des Architekturkritikers Ulrich Conrads: „Umwelt Stadt, Argumente und Lehrbeispiele für eine humane Architektur“, die Erstausgabe von 1974. „Studierende in Cottbus fragen aktuell nach den Büchern, die mich geprägt haben“, so Inken Baller, und die breiten Diskussionen zum Städtebau in den Siebzigern oder zu Reformbewegungen, die das beginnende 20. Jahrhundert hervorbrachte, sie sind heute nötiger denn je. Die Architektin in Anbetracht der aktuellen Wohnungspolitik: „Wir brauchen nicht mehr Eigentum – Berlin war immer eine Mieter:innenstadt!“

Foto: Inken Baller
Inken Baller spricht für sich und ihren Exmann Hinrich Baller über die Schaffensjahre 1966 bis 1989 in Berlin, als die beiden die Stadt neu dachten, und für den Sozialen Wohnungsbau Häuser entwarfen, die keinesfalls danach aussehen durften. Für die Internationale Bauausstellung 1987 entstand damals am Kreuzberger Fraenkelufer ein Wohnprojekt, das auch heute noch Architekt:innen interessiert, von überall anlockt, etwa großzügige Grundrisse, fließende Übergänge, mit Fenstern, aus denen schon die Krabbelkinder hinausschauen können, mit Podesten und Stufen, die den Raum neu und unorthodox aufteilen: „Bloß keine Drei-Zimmer-Schachteln!“
Aufgewachsen ist Inken Baller, geboren 1942, in der Kleinstadt Brunsbüttel. Nach 1945 verdreifachte sich durch die Flüchtlingsströme deren Einwohner:innenzahl auf 15.000 Menschen, oftmals untergebracht in Barackenlagern, „dann im Billigwohnungsbau, und mit diesem Wohnen ging eine soziale Stigmatisierung einher. Das fand ich nicht in Ordnung.“ Mit der Grenzöffnung nach Norden 1948 besuchte die Familie oft Dänemark, und die junge Inken wird geprägt vom skandinavischen Stil – der ist schlicht, offen, „alles war viel schöner als im kaputten Deutschland.“ Die modernen Bauten des finnischen Architekten Alvar Aalto, seine naturverbundene, von organischen Formen getragenen Konzeptionen lassen sie noch heute schwärmen.
Ein Praktikum mit grauslicher Erfahrung
Architektin wollte sie schon immer werden, erzählt Baller leise, wie im Selbstbekenntnis, ihre Augen schweifen aus dem großen Fenster. „Wenn ich überhaupt mal mit Puppen gespielt habe, habe ich ihnen ein Haus gebaut! Als Kind bin ich liebend gern auf Baustellen spaziert“ – jedenfalls so lange, bis sie selbst ein Praktikum in der Firma begonnen hat, die dass elterliche Einfamilienhaus gebaut hatte („eine grausliche Erfahrung fürs Leben, nie wieder!“). „Ich wurde geradezu besichtigt auf der Baustelle, bestaunt unter den Handwerkern. Unter den Zimmerleuten war einer, er kam direkt von der Bundeswehr, gab in der ersten Frühstückspause Witze unter der Gürtellinie zum Besten. Alle erstarrten. Der Polier hat ihn zur Seite genommen: Das geht nicht mehr – wir haben jetzt ein Mädchen hier!“

Foto: wikipedia/Gunnar Klack
Ein Jahr nach Mauerbau ging Inken Baller zum Architekturstudium nach Berlin, die Unfertigkeit und die Weite der Stadt faszinierten sie, wichtige Einflüsse erlebte sie durch ihren Lehrer Bernhard Hermkes und dessen engen Freund Hans Scharoun. 1968 dann das Diplom. Inken und ihr Ehemann Hinrich Baller, auch er Architekt, erhielten kleinere Aufträge, Umbauten zum Beispiel. Das Architektenpaar stand für behutsame Stadterneuerung, in Zeiten als Sanierung Abriss hieß und in Kreuzberg ganze Straßenviertel entmietet und Mieter:innen gedrängt wurden, ins Märkische Viertel zu ziehen. Die Ballers bewiesen, es geht auch anders. 1979 bis 1982 etwa retteten sie die von Bruno Taut von 1910 bis 1911 geschaffene und nach schweren Kriegsschäden noch erhaltene Straßenfassade eines Wohn- und Geschäftshauses am Kreuzberger Kottbusser Damm 2 und 3. Im Taut-Stil entstanden hinter der Originalfassade lärmgeschützte Mietwohnungen mit großzügigen Balkonen. Ungewöhnliche Situationen werden zur Baller-Spezialität – abseits des Mainstreams und bei Erhalt des Bestands. Inken Baller: „Wir haben unsere Visionen eingelöst.“
Eine Familie, so wuselig wie ein alter Handwerksbetrieb
Hinrich und sie waren sich in ihren Entscheidungen zumeist einig, wobei sie sich die härtere Formensprache zugesteht. Zusammen bewältigten sie eine 60-Stunden-Woche. Das Sekretariat wurde danach besetzt, wie gut die Person mit den beiden Mädchen umgehen konnte: „Die ganze Familie war integriert, es war so wuselig wie in einem alten Handwerksbetrieb. Aber keine unserer Töchter ist Architektin geworden!“ Sie lacht. Geheiratet haben Inken und Hinrich Baller, da war sie noch Studentin: „Nie fühlte ich mich zur Seite gedrückt. Ich habe unheimlich viel gelernt, diese erste Zeit hat mich sehr beeinflusst. Auf den Baustellen hatte ich keine Schwierigkeiten, vielleicht auch deshalb, weil Frauen eher zu fragen wagen als Männer, wenn sie etwas nicht wissen, nicht können – während die Männer dazu neigen, den Macker zu spielen, weil es nicht gut rüberkommt, so ein naseweiser Jungspund auf der Baustelle.“

Foto: Inken Baller
1989 wurde für Inken Baller mit der Trennung von Hinrich noch einmal zu einem Startknopfjahr. Alles auf Anfang. Oder auch nicht? Sie ging bewusst von West nach Ost als Lehrende, aus Kassel (Entwerfen und Baukonstruktion) nach Cottbus. Ihr Thema blieb das Bauen im Bestand. Wie schrieb Ulrich Conrads in dem kleinen rororo-Band: „Jenseits der Nutzung von Arealen und der Unterbringung von Menschen müssen Werte wiederentdeckt werden, die weder messbar noch ökonomisch auswertbar sind: Stadtarchitektur als sinnliches Erlebnis und Gehäuse für Begegnungen.“
Silke Kettelhake
Tanzende Häuser
Dank Netflix zur weltweiten Berühmtheit: In der Miniserie „Unorthodox“ wohnt die Mutter von Hauptdarstellerin Esty im Baller-Wohnhaus am Winterfeldtplatz – geschwungene Balkons, viel Stahl und Glas.

Foto: Inken Baller
Die Entwürfe von Hinrich und Inken Baller, später mit Doris, seiner zweiten Frau, polarisieren. Wegsehen fällt schwer. In den Augen von Freund:innen der schlichten, geraden Linien platzen die Baller-Entwürfe wie explodierende Schnörkel auf. Innen: lichtdurchflutete Zimmer, viel Bezug zum Grün vor den Fenstern, außen auf Säulen tanzende Häuser, mit Anklängen an den österreichischen Maler Friedensreich Hundertwasser und den spanischen Architekten Antoni Gaudí.
eska
24.01.2025