Die neue Paritätische Wohnarmutsstudie zeigt eindrücklich, welche zentrale Rolle die Wohnkosten für die soziale Lage in Deutschland spielen. Mehr privaten Haushalten als bisher angenommen bleibt nach Abzug der Wohnkosten so wenig Geld, dass gesellschaftliche Teilhabe nicht mehr möglich ist. Das ist mehr als ein statistischer Befund – es ist ein politischer Skandal.
In der neuen Expertise des Paritätischen Gesamtverbandes offenbart sich soziale Sprengkraft: Wohnen hat sich still und leise zum stärksten Treiber zeitgenössischer Armut entwickelt. In Deutschland gelten private Haushalte als armutsbetroffen, wenn sie weniger als 60 Prozent des bundesweiten Medianeinkommens zur Verfügung haben. Laut Statistischem Bundesamt gelten demnach 15,5 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet, das entspricht etwa 13 Millionen Menschen in Deutschland. Bezieht man jedoch die realen Wohnkosten in die Ermittlung des Medianeinkommens ein, steigt die Armutsquote in Deutschland auf über 22 Prozent. Laut Expertise des Paritätischen Gesamtverbandes rutschen demnach 5,4 Millionen Menschen mehr in Armut als bisher angenommen – insgesamt 18,4 Millionen Menschen beziehungsweise mehr als jeder fünfte Einwohner in Deutschland.
Besonders dramatische Entwicklung in Berlin
Während im Vorjahr noch etwas mehr als 20 Prozent der Berliner Haushalte als wohnarmutsbetroffen galten, sind es laut Paritätischem Gesamtverband inzwischen knapp 25 Prozent. Das bedeutet: Rund 300.000 Menschen mehr gelten als arm, als es die konventionelle Armutsstatistik ausweist. Nach den neuen Daten lebt in Berlin jeder vierte Haushalt in Wohnarmut. Das ist mehr als ein statistischer Befund – sondern Ausdruck des politischen Versagens!
Besonders häufig betroffen sind junge Erwachsene, Alleinerziehende und Rentner:innen. Existenzängste und die Sorge vor dem eigenen sozialen Abstieg reichen längst bis tief in die mittleren Einkommensschichten hinein. Zugleich steigt die Zahl der wohnungslosen Menschen – der Senat selbst prognostiziert bis 2030 rund 30.000 zusätzliche Wohnungslose.
Die sozialpolitische Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Wir brauchen eine Wohnungspolitik, die Wohnen als Daseinsvorsorge begreift. Dazu gehören die Priorisierung des sozialen Wohnungsbaus, der wirksame Schutz vor Mietsteigerungen, die Stärkung gemeinwohlorientierter Träger:innen, konsequente Eingriffe gegen Boden- und Immobilienspekulation sowie gegen die zweckfremde Nutzung bezahlbarer Wohnungen im Bestand. Nur so lässt sich die Abwärtsspirale aus steigenden Kosten und wachsender Armut durchbrechen.
Zeitgleich wächst in Berlin der Reichtum. Laut einem vom Senat am 10. Dezember 2025 veröffentlichten Bericht zur sozialen Lage gelten rund neun Prozent der Berliner Bevölkerung als einkommensreich. Die Zahl der Spitzenverdienenden von einer Million Euro Jahreseinkommen und mehr verdoppelte sich sogar zwischen 2015 und 2021 nahezu auf rund 1600. Auch Erbschaften und Schenkungen haben deutlich zugenommen und liegen laut Deutscher Presseagentur (dpa) über dem Bundesdurchschnitt.
Berechnungsmethode: Einkommensarmut versus Armut nach Wohnkosten
Die Studie nutzt einen Ansatz, der Armut realistischer abbildet, indem sie nicht das gesamte Einkommen betrachtet, sondern das Einkommen nach Abzug der Wohnkosten. Denn entscheidend für die Lebenswirklichkeit ist nicht, was ein Haushalt verdient, sondern wie viel ihm nach Abzug der Wohnkosten tatsächlich für Lebensmittel, Gesundheit, Kleidung, Altersvorsorge oder Freizeitgestaltung zur Verfügung steht.
Die Berechnung folgt den üblichen Regeln der Armutsmessung: Sie berücksichtigt alle Einkommensarten eines Haushalts, gewichtet diese nach Haushaltsgröße und legt die Armutsgrenze bei 60 Prozent des Medianeinkommens fest. Der einzige Unterschied: Vor der Bestimmung des Medianeinkommens werden die ermittelten Wohnkosten abgezogen. Erst auf dieser Basis wird ein neues „wohnkostenbereinigtes“ Medianeinkommen ermittelt, aus dem sich die Armutsgrenze ergibt.
Damit zeigt die Methode sehr klar, wer aufgrund hoher Wohnkosten armutsbetroffen ist. Zwei Personen mit identischem Einkommen können – abhängig von ihren Mietausgaben – in völlig unterschiedlichen finanziellen Situationen leben: Wer nach Abzug einer höheren Miete deutlich weniger übrig hat, gilt als arm – nicht wegen eines geringen Einkommens, sondern wegen übermäßig hoher Wohnkosten.
Die Datengrundlage für diese Berechnungen bildet eine Sonderauswertung des Mikrozensus (MZ-SILC) im Erhebungsjahr 2024 durch das Statistische Bundesamt im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbands.
Wohnarmut ist nicht naturgegeben
Die seit Jahren dominierende neoliberal geprägte Wohnungs- und Sozialpolitik macht wütend: Deregulierung, Privatisierung, Renditeorientierung und allenfalls temporäre, zahnlose Hilfsmaßnahmen sind an der Tagesordnung, dringend notwendige Reformen des Mietrechts bleiben auf der Strecke.
Immer wieder wird behauptet, die Mieten in Berlin seien nach wie vor niedrig, und die Verdrängenden, Entmietenden, Spekulant:innen, Mietpreisbremsen-Ignorierenden, Eigenbedarfskündigenden und profitgetriebenen Konzerne seien lediglich Einzelfälle – Ausnahmen, schwarze Schafe oder gar harmlose Kleinsparer:innen, die nur ihre Altersvorsorge sichern wollen.
Doch während auch die Renten- und Gesundheitssysteme kollabieren, bröckelt der Zusammenhalt und die Solidarität. Der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung zurück und überlässt die Bürger:innen sich selbst. Die Wohnungspolitik hat seit der Ära Helmut Kohl zu massiver Verdrängung, sozialer Spaltung, Diskriminierung und einer Wohnungsnot in den Städten und Ballungszentren geführt, die immer größere Teile der Bevölkerung trifft.
Die Daten der Expertise aus dem Paritätischen Gesamtverband zeigen unmissverständlich: Der Markt wird dieses Problem nicht lösen. Im Gegenteil – er produziert es. Wenn heute jeder vierte Berliner Haushalt als arm durch die hohen Wohnkosten gilt, ist das keine naturgegebene Entwicklung, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen. Und es bedeutet zugleich: Eine andere Politik ist möglich.
2026 erwarten uns nicht nur die Wahlen zum Abgeordnetenhaus – es wird endlich auch wieder eine große Mietendemo geben. Mit unserer Präsenz können wir unsere Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit und gegen Armut sichtbar auf die Straße tragen.
fs
Paritätischer Bericht zu Wohnarmut „Mieten fressen Einkommen“, Dezember 2025
17.12.2025




