Angesichts begrenzter Ressourcen unseres Planeten, der Klimakrise und des Artensterbens bietet Suffizienz wertvolle Lösungsansätze für eine nachhaltigere und sozial gerechte Wohnraumnutzung. Ein Blick auf die Wohnraumverteilung, den Wohnungsneubau und den Flächenverbrauch verdeutlicht die Notwendigkeit des Umdenkens in Politik und Gesellschaft.
Rosemarie S., eine 83-jährige Mieterin, lebt seit 50 Jahren allein in einer Vierzimmerwohnung einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft. Ihr Mann ist verstorben, die Kinder sind aus dem Haus. Die Siedlung aus den späten 1920er Jahren wird derzeit energetisch saniert. Während der Bauzeit soll Rosemarie in eine Umsetzwohnung ziehen, was ihr große Sorgen bereitet. Um die damit verbundenen Probleme zu bewältigen, engagiert sie sich in einer Mieter:inneninitiative.
Auch einem dauerhaften Umzug in eine kleinere Wohnung in der Siedlung steht sie skeptisch gegenüber: „Sie machen neue Mietverträge und verlangen 16 Euro pro Quadratmeter – mehr, als ich jetzt zahle“, erklärt sie bei einem Mieter:innentreffen. „Außerdem wüsste ich gar nicht, wie ich den Umzug schaffen oder wohin ich mit meinen Möbeln soll.“ Ihre Worte spiegeln Angst und Unsicherheit wider. Wie ihr geht es vielen älteren Mieter:innen in der Siedlung: Vorausgesetzt, es gibt kleinere Wohnungen im angestammten Umfeld, schrecken Neuvertragsmieten, Umzug und Umzugskosten sowie neue Konditionen in den Mietverträgen ab.
Andere Mieter:innen der Siedlung würden die größere Umsetzwohnung gern dauerhaft übernehmen – auch zu einem höheren Quadratmeterpreis. Eine Familie, deren zwei Kinder sich in der regulären Wohnung ein kleines Zimmer teilen müssen, wäre bereit, die 16 Euro pro Quadratmeter zu zahlen. Doch das Wohnungsunternehmen erlaubt den Tausch nicht. „Uns wurde gesagt, dass die freien Wohnungen neu vermietet werden müssen, also ein Wohnungstausch nicht in Frage kommt.“, berichtet die junge Mutter. Als Grund habe man die Förderbedingungen für die energetische Modernisierung genannt.
Obwohl landeseigene Wohnungsunternehmen den Wohnungstausch unterstützen sollen, scheint das in der Praxis oft nicht zu funktionieren. Es seien nicht alle Wohnungen dafür geeignet, wie das Infoblatt der landeseigenen Wohnungstauschbörse erklärt. Zudem führt ein Tausch zu einem neuen Mietvertrag mit veränderten Konditionen. Rosemarie S. kritisiert, dass sich dadurch ihre Kündigungsfrist verkürzen würde, sie für Schönheitsreparaturen künftig selbst verantwortlich wäre und höhere Betriebskosten in Kauf nehmen müsse.
Sie und andere Mieter:innen der Siedlung mit über 500 Wohnungen stehen exemplarisch für ein grundlegendes Problem vieler städtischer Wohnungsmärkte: die ungleiche Verteilung von Wohnraum. Trotz dringender Bedürfnisse von Familien oder Alleinstehenden bleibt die aktuelle Situation vielerorts unlösbar. Bestehende Strukturen und hohe Neuvertragsmieten verhindern die flexible und bedarfsgerechte Nutzung von Wohnraum.
Die Problematik der Wohnraumverteilung
Passenden Wohnraum zu finden, ist in der Wohnungskrise schwierig und im angestammten Wohnumfeld nahezu unmöglich. Gleichzeitig profitieren viele Haushalte von älteren Mietverträgen, die ihnen vergleichsweise moderate Grundmieten und gesicherte Vertragskonditionen sichern. Diese Haushalte sind durch den sogenannten Lock-in-Effekt praktisch gebunden: Eine kleinere Wohnung im gewohnten Umfeld ist oft teurer. In Berlin leben schätzungsweise 100.000 Familien in überbelegten Verhältnissen, das bedeutet, dass mehr Personen in einer Wohnung leben, als Zimmer vorhanden sind – insbesondere, wenn es sich um Haushalte mit jugendlichen Kindern handelt. Gleichzeitig wohnt etwa ein Viertel der Berliner Single-Haushalte in Wohnungen mit mehr als zwei Zimmern, was etwa 300.000 Wohnungen betrifft. Obwohl diese Zahlen keine genauen Rückschlüsse auf die tatsächlichen Bedürfnisse erlauben, legen sie nahe, dass ein Teil der Wohnungen angemessener genutzt werden könnte.
Ein gesetzlich geregeltes Wohnungstauschrecht könnte helfen, Wohnraum effizienter zu nutzen und den Bedarf an Neubauten zu verringern. So ließe sich ein Teil der in Berlin aktuell benötigten 100.000 Wohnungen einsparen. Dazu müssten Hindernisse wie hohe Umzugskosten und emotionale Bindungen durch soziale Unterstützung und gezielte Anreize abgebaut werden. Ansätze wie die Mitnahme der bisherigen Quadratmetermiete, eine Umzugsprämie oder die Förderung von Tauschbörsen und bezirkliche Anlaufstellen könnten die Bereitschaft zum Wohnungstausch erhöhen. Laut Studien wären 31 Prozent der Befragten bereit, in eine kleinere Wohnung zu ziehen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Mit zusätzlicher sozialer Begleitung durch Wohnungsunternehmen könnte diese Zahl noch deutlich steigen. Betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Kosten sinken, denn die Förderung von Wohnungstausch erspart einen Teil des Wohnungsneubaus und des Flächenverbrauchs.
Obwohl in Deutschland mittlerweile einige Wohnungstauschbörsen existieren, bleiben sie aufgrund unzureichender Mieter:innenschutzregelungen eine Nischenlösung. Besonders Rentner:innen und Alleinerziehende können sich Neuvertragsmieten von 13 bis 16 Euro pro Quadratmeter, wie sie etwa in Berlin üblich sind, oft nicht leisten.
Bauen, wo nötig, und umbauen, wo möglich
Der Gebäudesektor spielt augenblicklich in zwei sich überlagernden Krisen eine entscheidende Rolle – in der Wohnungskrise und der Klimakrise. Rund 35 Prozent des Endenergieverbrauchs und 40 Prozent der Treibhausgasemissionen in Deutschland entfallen auf diesen Sektor. Zwar hat sich die Energieeffizienz von Gebäuden in den letzten Jahrzehnten geringfügig verbessert, doch der steigende Wohnflächenverbrauch pro Person kompensiert diese Fortschritte. 1991 nutzte man im Schnitt 35 Quadratmeter pro Kopf, heute sind es 47 – Tendenz steigend. Dieser Zuwachs verschärft die Wohnraumkrise und hat erhebliche ökologische Konsequenzen: Täglich werden etwa 32 Hektar Land – das entspricht rund 45 Fußballfeldern – neu versiegelt, was maßgeblich zum Verlust der Biodiversität beiträgt.
Suffizienz setzt genau hier an, indem sie hinterfragt, wie Wohnraum effizienter und ressourcenschonender genutzt werden kann. Eine suffiziente Wohnungspolitik sollte den Umbau und die Umnutzung von Bestandsgebäuden priorisieren. Die Kosten solcher Projekte sind in der Regel deutlich niedriger als die eines Neubaus und belasten die Umwelt wesentlich weniger. Beispielsweise kostet die Umnutzung eines geeigneten Bürogebäudes in Wohnraum etwa 1.500 Euro pro Quadratmeter, während Neubauten mit über 4.000 Euro pro Quadratmeter zu Buche schlagen. Ein stärkerer Fokus auf Umbau- und Anbauprojekte könnte Ressourcen sparen und bestehende Quartiere ökologisch und sozial aufwerten – ohne Verdrängung von Anwohner:innen.
Auch die Förderung von gemeinschaftlichen Wohnmodellen bietet enormes Potenzial. Barrierefreie Wohngemeinschaften, die flexible Nutzung von Gemeinschaftsflächen oder Cluster-Wohnungen tragen dazu bei, Wohnraum effizienter zu nutzen und soziale Bindungen zu stärken. Cluster-Wohnungen kombinieren kleinere private Wohneinheiten mit Bad und optionaler Küche mit gemeinschaftlich genutzten Räumen. Solche Konzepte erfordern klare rechtliche Rahmenbedingungen und gezielte Förderprogramme. Erste Angebote bieten Göttingen, Tübingen oder Osnabrück über städtische Beratungsstellen an.
Suffizienz als Nachhaltigkeitsstrategie anerkennen und etablieren
Um Suffizienz flächendeckend als Strategie für eine nachhaltige Wohnraumpolitik zu etablieren, sind gezielte politische Maßnahmen entscheidend. Es beginnt mit der Anerkennung von Suffizienz als tragende Säule der Nachhaltigkeitsstrategie und ihrer konsequenten Verankerung in politischen und planerischen Entscheidungsprozessen.
Eine Status-quo-Analyse, etwa in Form lokaler Wohnungskataster, sollte Aufschluss darüber geben, welche Wohnungsarten und -größen den Anforderungen des demografischen Wandels entsprechen und wie sie lokal verteilt werden können. Gleichzeitig gilt es, Potenziale für Umnutzung, Aufstockung, Leerstandsbekämpfung und die Vermeidung von Unterbelegung systematisch zu erschließen. Beim Neubau müssen flächensparende Bauweisen und die Vermeidung von Netto-Neuversiegelung im Vordergrund stehen, um ökologische Belastungen zu minimieren. In Berlin hat sich im vergangenen Jahr die Initiative Bauwende ökologisch & sozial gegründet, die zahlreiche Vorschläge für einen ressourcenschonenden Flächen- und Materialverbrauch sowie zur Nachhaltigkeit beim Bauen macht.
Der Abbau rechtlicher Hürden für Umbauten und Umnutzungen ist essenziell, um dem Wohnungsmarkt bestehende Gebäude effizient und ressourcenschonend zur Verfügung zu stellen. Ergänzend sollten strengere Vorschriften zur Bekämpfung von Leerstand und der Zweckentfremdung durch Ferienwohnungen sicherstellen, dass der vorhandene Wohnraum optimal genutzt wird. Mietenpolitische Maßnahmen zur Mietpreisregulierung sowie gezielte Anreize für flächeneffizientes Wohnen tragen dazu bei, Wohnraum gerechter zu verteilen.
Schlüssel zu einer gerechteren Wohnzukunft
Der Wohnungstausch ist ein konkretes Beispiel für Suffizienz in der Praxis. Dieses Konzept hat das Potenzial, den Wohnungsmarkt zu entlasten und gleichzeitig Umwelt und Klima zu schützen. Die Herausforderungen – von organisatorischen Hürden bis hin zu emotionalen Bindungen – erfordern jedoch die gesetzliche Regelung und gezielte Unterstützungsprogramme. Best Practices, gesammelt in einem Leitfaden, könnten helfen, Wohnungstauschprogramme effektiver zu gestalten und ihre Akzeptanz zu erhöhen.
Langfristig erfordert Wohnraumsuffizienz ein ganzheitliches Umdenken auf allen Ebenen – von individuellen Entscheidungen über bauliche Maßnahmen bis hin zu politischen Weichenstellungen. Mit den richtigen Maßnahmen kann Suffizienz zu einem zentralen Baustein der sozial-ökologischen Transformation werden. Sie eröffnet Perspektiven für eine nachhaltige und sozial gerechte Wohnzukunft, die sowohl den Bedürfnissen von Rosemarie S. und der jungen Familie in der Berliner Wohnsiedlung entsprechen als auch den ökologischen Herausforderungen gerecht wird.
lsw, fs
22.01.2025