Mit dem geplanten Verkauf von knapp 400 Wohnungen erschüttert die Karl Marx Wohnungsgenossenschaft in Potsdam das Vertrauen in das Modell der bezahlbaren und demokratischen Wohnform. Der Protest ist massiv. Was steckt hinter dem Verkaufsbeschluss? Welche Gegenargumente gibt es? Und warum führen die Ursachen zurück bis in die Wendezeit? Eine Spurensuche.
Für viele ist es der Inbegriff von Wohnsicherheit: Mitglied in einer Genossenschaft zu sein, Anteile zu halten, demokratisch mitzubestimmen über Mieten, Modernisierungen, Service und Neubau – und vor allem: nicht dem freien Spiel des Immobilienmarkts ausgeliefert zu sein. In der Karl Marx Wohnungsgenossenschaft (KM) in Potsdam war das jahrzehntelang gelebte Realität. Umso größer der Schock für rund 400 Mietparteien, als sie vor wenigen Wochen erfuhren: Ihre Wohnungen sollen privatisiert werden.
Was nun droht, ist das Gegenteil des Genossenschaftsversprechens. Nach einer kurzen Schonfrist können Eigenbedarfskündigungen, Mieterhöhungen und Verdrängung die Folge sein. Die Mieter:innen wehren sich. Mit einer Petition und über 1.180 Unterschriften machen sie mobil gegen das Vorhaben. Auf der zugehörigen Website berichten hunderte Mieter:innen von ihrer Geschichte, ihrer Angst – und ihrem Gefühl, verraten worden zu sein. Richard Wagner beispielsweise ist seit 66 Jahren Mitglied der Wohngenossenschaft. „Ich bin 89 Jahre und möchte nicht mehr den Wohnort und die Wohnung wechseln“, kommentiert er auf der Petitions-Website. „Ich habe Aufbaustunden geleistet, Genossenschaftsanteile bezahlt, um auch mir und meiner Familie Wohnsicherheit zu geben. Diese sehe ich für meinen Lebensabend gefährdet.“
Ein Beschluss aus heiterem Himmel
Dass ausgerechnet eine Genossenschaft mit dem Namen Karl Marx – der wohl schärfste Kapitalismuskritiker der Neuzeit – Wohnungen privatisieren will, ist zynisch. Gegründet im Jahr 1954 als Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft mit 42 Mitgliedern aus drei Betrieben, zählt die WG Karl Marx heute über 8.300 Mitglieder und besitzt mehr als 6.700 Wohnungen – jede 14. Wohnung in Potsdam gehört zu ihr.
Wirtschaftlich steht die Genossenschaft gut da: Die Eigenkapitalquote ist zuletzt gestiegen und die Mieten – bei Genossenschaften handelt es sich formal um das monatliche „Nutzungsentgelt“ – wurden angehoben: auf durchschnittlich 5,94 Euro pro Quadratmeter im Bestand und 9,36 Euro pro Quadratmeter im Neubau. Der Geschäftsbericht 2024 betont: „In all unseren Planungen steht der Mehrwert für die Mitglieder im Vordergrund.“
Dennoch beschloss die Vertreter:innenversammlung am 25. Juni 2025 – auf Vorschlag von Vorstand und Aufsichtsrat – den Verkauf von 397 Wohnungen. Diese befinden sich in neun Wohnungseigentumsgemeinschaften (WEG) und sollen über einen Zeitraum von zehn Jahren veräußert werden – zunächst leerstehende, später auch bewohnte Wohnungen. Vorrang beim Kauf haben die Mieter:innen und ihre engsten Verwandten selbst, dann andere Genossenschaftsmitglieder und schließlich externe Privatpersonen. Käufer:innen dürfen jeweils nur eine Wohnung erwerben, Unternehmen sind gänzlich ausgeschlossen. Mieter:innen, die kein Kaufinteresse haben, sollen drei gleichwertige Wohnungen im Wohnungsbestand angeboten bekommen.
Bittere Folgen mit Ansage
Hinter den bürokratischen Abläufen verbirgt sich ein reales Drama: Können oder wollen Mieter:innen nicht kaufen – etwa aus Altersgründen, wegen fehlender Rücklagen oder Ablehnung einer Finanzierung – stehen sie vor der Wahl, auszuziehen oder in Unsicherheit zu leben. Dass die WG Karl Marx den Mieter:innen für lediglich fünf Jahre nach dem Verkauf Schutz vor Eigenbedarfskündigungen und Mieterhöhungen einräumen will, ist für viele nur ein schwacher Trost.
Mit dem Verkauf werden die Wohnungen dem gemeinwohlorientierten Wohnungssegment entzogen – mit spürbaren Folgen für Mieter:innen. Private Käufer:innen handeln, ob zur Eigennutzung oder als Kapitalanlage, vorrangig im Eigeninteresse. Auch wenn Genossenschaftsmitglieder zum Zug kommen, ist ein späterer Weiterverkauf nicht ausgeschlossen. Verdrängung durch Eigenbedarf oder Mieterhöhungen wird so möglich. Schließlich hat eine profitorientierte Bewirtschaftung Effekte auf das Mietniveau in den umliegenden Nachbarschaften.
Besonders hart trifft der Beschluss ältere Menschen: Ein Großteil der betroffenen Mieter:innen ist über 75 Jahre alt – ein Alter, in dem weder eine Kreditaufnahme realistisch ist noch größere Rücklagen vorhanden sind. Gleichzeitig ist ein Umzug für viele existenziell bedrohlich, da soziale Netzwerke wegbrechen, die im höheren Alter überlebenswichtig sind.
Die Begründung des Vorstands – fragwürdig
Für viele Mitglieder bedeutet der Verkaufsbeschluss einen Bruch mit dem genossenschaftlichen Gedanken. Ramona Misgalski kritisiert: „Das wurde über unsere Köpfe hinweg entschieden – von irgendwelchen Vertretern.“ Vivien Fröhlich bemängelt mangelnde Transparenz. Bei einer Zukunftswerkstatt im November 2024 sei kein Wort über einen möglichen Verkauf gefallen. Eine frühzeitige Information über mögliche Liquiditätsprobleme oder einen Sanierungsstau wäre aus ihrer Sicht das Mindeste gewesen.
Genau damit begründet der Vorstand nun den Verkauf: Eine umfassende Strangsanierung des Bestandes sei notwendig, ebenso Anpassungen an die Wärmewende sowie an die Bedürfnisse älterer und jüngerer Haushalte.
Zudem sei die Koordination mit den Eigentümer:innengemeinschaften aufwendig – ein Überbleibsel aus der Wendezeit, als die WG Karl Marx auf politischen Druck hin, 1.126 Wohnungen in Eigentum umwandeln musste. Davon wurden damals nur 729 verkauft. Die restlichen 397 Wohnungen – nun von der Veräußerung betroffen – befinden sich seitdem in gemischten Eigentümer:innenstrukturen, sind aber dennoch unter Verwaltung der Genossenschaft und von ihren Mitgliedern bewohnt. Der Genossenschaftsvorstand beklagt den Abstimmungsaufwand für die Sanierungsarbeiten an den Gebäuden innerhalb der Wohnungseigentümergemeinschaften (WEG).
Für Holger Catenhusen, Vorstand des Mietervereins Potsdam, tragen diese Argumente nicht. Die Wärmewende, so seine Einschätzung, sei in Gebäuden mit Fernwärmeversorgung primär Aufgabe des Versorgers – nicht der Genossenschaft. Und auch Strangsanierung, Barrierefreiheit und familiengerechter Umbau seien normale Investitionen, die aus der Miete finanzierbar sein müssten.
Besonders kritisch sieht Catenhusen die Begründung mit der schwierigen Abstimmung in den Eigentümergemeinschaften. Die Abstimmung sei laut Wohnungseigentumsgesetz der Regelfall – und kein legitimer Verkaufsgrund: „Die Genossenschaft scheint sich nicht die Mühe machen zu wollen, ihrer Verantwortung in den jeweiligen Wohnungseigentümergemeinschaften nachzukommen.“ Einen echten Dialog über Sanierungsmaßnahmen habe es offenbar nicht gegeben.
Eine Stellungnahme der WG Karl Marx lag bis Redaktionsschluss nicht vor.
Exkurs: Ausverkauf Ost – ein Blick zurück
Dass sich die betroffenen Wohnungen heute in Eigentümergemeinschaften befinden, ist kein Zufall, sondern Folge politischer Entscheidungen nach der Wende.
In der DDR wurde der genossenschaftliche Wohnungsbau aktiv gefördert – mit kostenlosem Bauland, zinslosen Krediten für bis zu 85 Prozent der Baukosten und Eigenleistungen der Mitglieder, den Aufbaustunden. Für viele bedeutete das: Hunderte Stunden Arbeit und dauerhaft günstige Mieten. Beispiel Zwei-Raum-Wohnung: 900 Mark Eigenkapital plus 600 bis 1.000 Stunden Arbeit auf der Baustelle der eigenen Wohnung. Gewinne waren ausgeschlossen, die monatliche Miete lag oft unter einer Mark pro Quadratmeter.
Nach der Wiedervereinigung forderte der Bund die Rückzahlung der zuvor zinslosen DDR-Kredite – nun mit bis zu neun Prozent Zinsen. Viele Genossenschaften gerieten unter Druck. Als „Lösung“ bot der Bund das Altschuldenhilfegesetz: Wer 15 Prozent seines Wohnungsbestands privatisierte, erhielt einen teilweisen Schuldenerlass. Auch die WG Karl Marx beteiligte sich. 1.126 Wohnungen wurden in einzelne Eigentumswohnungen umgewandelt, 97 Millionen D-Mark Schulden erlassen. 729 Wohnungen wurden bis zu einer Gesetzesänderung 1999 verkauft, die verbleibenden 397 Wohnungen mussten nicht mehr privatisiert werden und blieben im Genossenschaftsbestand – bis heute.
Das Vorgehen, die zweckorientierte DDR-Wohnungsversorgung in die auf private Profite ausgerichtete Marktwirtschaft der BRD zu zwängen, stieß auf Kritik. Geleistete Aufbaustunden hatten damit an Wert verloren.
Trotz inzwischen stabiler finanzieller Lage will der Vorstand der WG Karl Marx nun den Verkauf fortsetzen – freiwillig. Dabei hatte man die Fehler der 1990er-Jahre eigentlich hinter sich lassen wollen.
Was können die Mitglieder tun?
Ganz machtlos sind die Mitglieder nicht. Die Paragrafen 13, 32 und 35 der Satzung der Genossenschaft eröffnen Möglichkeiten zur Gegenwehr. Wenn sich mindestens 10 Prozent der Mitglieder zusammenfinden, können sie unverzüglich eine Vertreter:innenversammlung einberufen, dort vorsprechen und Anträge zur Beschlussfassung stellen. Sie können auch direkt die Einberufung einer Mitgliederversammlung zur Auflösung der Vertreterversammlung fordern.
Es gibt also die Möglichkeit, Entscheidungen der Vertreter:innenversammlung zu revidieren oder die Vertreter:innen für den Vertrauensbruch ihres Amtes zu entheben. Mit den mehr als 1.180 Unterzeichnenden der Petition wäre das Quorum erreicht. Noch haben die amtierenden Vertreter:innen ein Jahr Restlaufzeit.
Der Mieterverein Potsdam bietet den Mitgliedern Rechtsberatung an. Auch politischer Druck ist nun wichtig – gleichwohl eine Genossenschaft formal ein privates Unternehmen ist.
Echte Herausforderungen – und ein Appell
So falsch die Verkaufspläne auch sind – sie zeigen strukturelle Defizite auf. Die Wärmewende erfordert hohe Investitionen. Sie muss konsequenter vorangetrieben werden – und vor allem: Die gemeinwohlorientierte Wohnungswirtschaft braucht gezielte Förderung, um diese Aufgabe stemmen zu können.
Der Dialog mit den Eigentümer:innengemeinschaften mag herausfordernd sein. Aber er ist nicht unmöglich – insbesondere WEG benötigen für die Wärmewende und den Klimaschutz im Bestand Expertise und finanzielle Mittel, die mit den Genossenschaftsvorhaben zusammengedacht werden können. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte zeigt: Es braucht mehr Wohnungen in Hand von Mieter:innen, Kommunen und Genossenschaften – nicht weniger. Bleibt zu hoffen, dass die WG Karl Marx den geplanten Verkauf stoppt.
ml
18.08.2025




