Sie sind zäh- und langlebig, werden präsentiert als ewige Wahrheiten, und doch halten 10 der hartnäckigsten Irrtümer der Berliner Bau- und Wohnungspolitik einer Prüfung nicht stand

1. Berlin hat günstige Mieten, gemessen am Durchschnittsverdienst
Arm, aber sexy? Es ist eigentlich noch nicht so lange her, dass den im Bundesdurchschnitt vergleichsweise niedrigen Einkommen in Berlin auch niedrige Mieten gegenüberstanden. Aber das ist Geschichte.
Berlin verzeichnet derzeit den größten Mietanstieg in deutschen Großstädten. Trotz Preisbremse kletterten die Angebotsmieten allein 2023, verglichen mit dem Vorjahr, um 18,3 Prozent auf 13,60 Euro pro Quadratmeter im Median (Wohnungsmarktreport 24 der Bank Berlin Hyp und des Maklerhauses CBRE). Das heißt, die Spanne reicht von 6,25 Euro im preiswerten bis zu 26 Euro im hochpreisigen Segment.

Illustration: Julia Gandras
„Ein Haushalt mit hohen Einkünften ist natürlich deutlich im Vorteil“, sagt Rainer Tietzsch, Mietrechtsanwalt und Vorstandsvorsitzender des Berliner Mietervereins (BMV). „Der kann eine hohe Miete zahlen – und ist auch bei den günstigeren Wohnungen im Vorteil.“ Denn die meisten Vermieter schließen lieber mit jenen einen Vertrag, auf deren Gehaltskonto das Vier- oder Vielfache der Monatsmiete im Monat eingeht.
Aber für wie viele Berlinerinnen und Berliner trifft das überhaupt zu? Und halten die Einkommen tatsächlich Schritt mit den steigenden Mieten?
Der BMV und die Stadtforschungsgesellschaft Asum GmbH legten kürzlich eine Studie zu Mietbelastung und Zahlungsfähigkeit der Berliner Haushalte vor. Danach liegen fast 22 Prozent unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle. Als arm gelten 12 Prozent, etwa weil ein Einpersonenhaushalt über weniger als 1222 Euro im Monat verfügt oder weil für zwei Erwachsene mit einem Kind maximal 2200 Euro zur Verfügung stehen.
Gemessen an ihrem Einkommensniveau kann sich laut Studie ein Drittel der Berliner Haushalte nicht aus eigener materieller Kraft am Wohnungsmarkt versorgen. Bereits jetzt werden bei ihnen durchschnittlich 45 Prozent des Einkommens für die Bruttokaltmiete aufgewendet.
„Die Misere betrifft aber nicht nur das untere Drittel“, ergänzt Rainer Tietzsch. „Auch etwas besser Verdienende haben Probleme.“
Zwei Drittel der Berliner haben einen WBS-Anspruch
So diejenigen, die sich vergrößern wollen, wegen des Jobs nach Berlin ziehen müssen und erst recht diejenigen, bei denen der Vermieter Eigenbedarf angemeldet hat. Ihre Einkommen halten mit den finanziellen Erfordernissen nicht Schritt. Deshalb trat vor zwei Jahren auch das Wohngeld-Plus-Gesetz in Kraft. Es erweiterte den Kreis der begünstigten Haushalte um 14 Prozent. Nun haben zwei Drittel der Berliner Mieterinnen und Mieter (61,2 Prozent) einen WBS-Anspruch. Diese wohnungspolitische Maßnahme sollte Abhilfe schaffen, hat jedoch eine Kehrseite: Weil sich das Angebot an bezahlbaren Wohnungen nicht vergrößert, verschärft sich die Konkurrenz um die knappe Ressource – und drängt untere Einkommensgruppen noch weiter an den Rand. Eine Folge ist eine zunehmende Überbelegung. Rainer Tietzsch: „Die Menschen rücken notgedrungen zusammen. Es gibt einige Fälle, da teilen sich neun Personen drei Zimmer.“
Rosemarie Mieder
2. Der Zuzug von Besserverdienenden verhindert das soziale Kippen eines Gebiets
Segregation wird als Problem immer nur bei der Konzentration von finanziell Schlechtergestellten wahr genommen, nie andersrum, sagt Dr. Matthias Bernt vom Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung. Beobachtbar sei das „Kippen eines Gebiets“ hingegen vor allem dort, wo der Gentrifizierungsprozess schon weit fortgeschritten ist, also beispielsweise wenn wegen steigender Gewerbemieten die alteingesessene Bäckerei schließen muss.
Bernt verweist allerdings auch darauf, dass ein Großteil der Berliner Innenstadt mittlerweile unter Milieuschutz steht. Damit soll denn auch einer Verdrängung Einhalt geboten werden, die der Zuzug von Besserverdienenden auch mit sich bringen kann. Diese beiden Seiten der Medaille würden aber selten zusammengebracht.

Illustration: Julia Gandras
Soziologisch betrachtet gehe es bei der Diskussion über die soziale Durchmischung von Gebieten um „Nachbarschaftseffekte“. Damit werden (zusätzliche) soziale Benachteiligungen durch das Wohnen in einem bestimmten Quartier bezeichnet. In der Forschung werden meist drei Effekte untersucht, so Bernt: Stigmatisierungseffekte, Sozialisationseffekte und Infrastruktureffekte.
Mit Stigmatisierungseffekten sind etwa Nachteile bei Bewerbungen durch eine Adresse in einem bestimmten Wohngebiet gemeint. Diese Effekte sind allerdings schwer nachzuweisen. Nicht nur, weil sie sich schwer von anderen Effekten isolieren lassen, sondern auch, weil die Bewertung eines Bezirks zum gleichen Zeitpunkt sehr unterschiedlich ausfallen kann. So konnte Kreuzberg etwa lange gleichzeitig als abgehängter Bezirk mit hohem Migrationsanteil gelten und gleichzeitig als hipper Szenebezirk.
Der Begriff „Sozialisationseffekte“ bezeichnet hingegen die Theorie, dass Verhaltensweisen in der Nachbarschaft auf andere abfärben. Wenn niemand in der Nachbarschaft um 7 Uhr morgens aufsteht, ist man möglicherweise selbst auch weniger geneigt dies zu tun. Dem steht gegenüber, dass Studien aus Großbritannien darauf hindeuten, dass bei gezielter sozialer Durchmischung, etwa von früheren Sozialwohnungsvierteln, die verschiedenen Schichten auch in räumlicher Nähe sehr wohl isoliert voneinander bleiben können.
Nur geringe Effekte durch Muttersprachler:innen
Am interessantesten ist wohl der Faktor Infrastruktur. Eine Schule mit 80 Prozent nicht-muttersprachigen Schüler:innen kann zwar durchaus ein Nachteil sein. Doch hat der Zuzug besserverdienender Muttersprachler:innen in der Praxis meist deutlich geringere Auswirkungen gehabt als erhofft. Größere Erfolge versprechen hingegen Investitionen wie das Einstellen von mehr Lehrpersonal.
Mit Menschen der gleichen Schicht in einem Viertel zu leben, ist letztlich nicht per se ein Problem, sondern lediglich dann, wenn Wohnen, Leben und Versorgung profitgeleitet und nur auf Besserverdienende ausgerichtet sind. Eine Stadtpolitik könnte sich stattdessen entscheiden, gerade auch Gebiete mit geringerer ökonomischer Leistungsfähigkeit infrastrukturell aufzuwerten.
Tobias Becker
3. Der „Sicker-Effekt“ beim Wohnungsbau gleicht die Defizite im preisgünstigen Angebot aus
Auf das Argument, dass im Neubau vor allem hochpreisiger Wohnraum entsteht, den sich Normalverdienende nicht leisten können, wird von den „Bauen, bauen, bauen“-Vertretern oft auf einen „Sickereffekt“ verwiesen, der hier Abhilfe verschaffen soll.

Illustration: Julia Gandras
Die vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) 2020 veröffentlichte Studie „Umzugsmobilität und ihre Wirkung auf lokale Wohnungsmärkte“ beschreibt den Vorgang folgendermaßen: „In eine neugebaute Wohnung zieht ein Haushalt ein, der anderswo eine preiswertere Wohnung freimacht. Umzugsketten kommen in Gang.“ Die im Auftrag des Bauherren-Schutzbund e.V. erstellte Metastudie „Sickereffekte“ führt noch weiter aus: „Gut verdienende Haushalte, die hochwertigen Neubau beziehen, machen anderswo eine Mietwohnung frei (technischer Sickereffekt). Dorthin rücken einkommensschwächere Haushalte zu Mieten unterhalb des Neubauniveaus nach und verbessern ihren Wohnwert (sozialer Sickereffekt).“
Im Idealfall wechselt ein Haushalt in seinem Lebenszyklus die Wohnfläche von klein zu groß, das Gebäude von alt zu neu und die Ausstattung von schlicht nach gut. Als Anlässe für Umzüge werden insbesondere der Auszug aus dem Elternhaus, die Ausbildung oder der Berufseinstieg, ebenso der Zusammenzug mit einem Lebenspartner und schließlich die Geburt eines oder weiterer Kinder benannt. Soweit die Sickereffekt-Theorie: Der Neubau hochpreisiger Wohnungen entspannt den Markt für alle, weil diejenigen, die in die neuen Wohnungen ziehen, eine günstigere Wohnung frei machen, in die wiederum Menschen ziehen, die eine noch preisgünstigere Wohnung frei machen. So soll der Effekt bis hinunter in das Marktsegment wirken, das sich jeder leisten kann.
Die Veröffentlichung „Für eine wirklich soziale Wohnungspolitik“ aus dem Jahr 2018, die mehr als 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschrieben haben, kommt nun aber zu ganz anderen Ergebnissen. „Nur wenige Studien haben versucht, die modellhaft angenommenen Sickereffekte empirisch zu überprüfen. Eine Untersuchung konnte zwar zeigen, dass Neubauten Umzugsketten auslösen und ‚durch den Umzug in einen Neubau immer Wohnungen frei werden, die etwas kleiner, etwas älter und etwas preiswerter sind. Zugleich stellte die Studie aber fest, dass die ‚frei gezogenen Wohnungen meist teurer weiter vermietet‘ wurden“. Dagegen ist den Wissenschaftler:innen keine einzige empirische Studie zu angespannten Wohnungsmärkten bekannt, die Sickereffekte auf das Niveau bezahlbarer Wohnungsversorgung belegen kann.“
Eine Umzugskette von oben nach unten?
Woran liegt es, dass der Sickereffekt in der Praxis nicht funktioniert? Nach Studien kommt es hierbei wesentlich auf die Situation des Wohnungsmarktes an, in dem Neubauten auf den Markt kommen. In der eingangs genannten Studie des BBSR „Umzugsmobilität und ihre Wirkung auf lokale Wohnungsmärkte“ wird beispielsweise erklärt: „Je länger sich Wohnungsmarktengpässe als Folge unzureichender Bauleistungen aufbauen und verschärfen, umso schlechter lassen sich ihre Auswirkungen für die günstige Wohnungsversorgung mit teurem Wohnungsneubau bekämpfen.“ Weiter führt die Studie aus, dass ein angespannter Wohnungsmarkt vor allem die „soziale“ Versorgungswirkung des teuren Wohnungsneubaus untergräbt.
Dieser reicht mit seiner Wirkung dann nicht mehr in die preiswerten Teilmärkte hinein. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Sickereffekt ist eine Theorie, die auf einem idealen Wohnungsmarkt mit entspannter Lage und Umzügen, die je nach Lebenszyklus der Mieter:innen erfolgen, durchaus berechtigt ist. In der derzeitigen Situation mit zu wenig Angebot von bezahlbarem Wohnraum und Vermieter:innen, die bei Freiwerden einer Wohnung die Miete maximal erhöhen, verpufft die Sickerwirkung und hat keinerlei Auswirkung auf das allgemeine Mietenniveau.
Stefan Klein
4. Der Wohnungsbau braucht mehr Anreize und weniger Regulierung und Bürokratie
In Zeiten des Wohnungsmangels gibt die Politik immer wieder Zielzahlen für den Neubau von Wohnungen aus, die fast jedes Mal verfehlt werden. Die soeben gestrandete Bundesregierung hat ihre Vorgabe von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr niemals auch nur annähernd erreicht. Auch das Land Berlin hat die auf 20.000 Neubauwohnungen gelegte Latte jedes Jahr gerissen.
Weil der Bund und das Land nicht selbst Wohnungen bauen, werden mit der Bau- und Wohnungswirtschaft Bündnisse geschlossen, in denen der Staat verspricht, das Bauen zu erleichtern, und die Wirtschaft zusichert, die gewünschten Wohnungen zu bauen. Wenn es dann nicht klappt, schiebt die Immobilienwirtschaft gern den Schwarzen Peter an die Politik: Zu viel Bürokratie und Regulierungen erschweren, verteuern und verlangsamen das Bauen. „Bauvorschriften radikal vereinfachen“, lautet die Forderung des Wohnungswirtschaftsverbandes GdW, der Immobilienverband ZIA verlangt „mehr politischen Mut, um Abschied vom baupolitischen Mikromanagement zu nehmen“. Zudem brauche man für das Schaffen von bezahlbaren Wohnungen mehr finanzielle Anreize.
Am liebsten das Rundum-Sorglos-Paket
Die Klage über die Baubürokratie, über 16 verschiedene Landesbauordnungen, über die undurchsichtige Kompetenzverteilung zwischen Senat und Bezirken ist ein jahrzehntealtes Mantra. Ebenso alt sind die Versuche der Politik, das abzustellen. Die Berliner Bauordnung ist eine Dauerbaustelle. Vor lauter Liberalisierungen und Bauerleichterungen blicken auch die Fachleute kaum noch durch, was gerade gilt. Mit dem Schneller-Bauen-Gesetz fügt der Senat noch ein paar Neuerungen hinzu. Gleichzeitig doktert der Bund beständig am Baugesetzbuch herum – 2021 mit dem Baulandmobilisierungsgesetz und zuletzt durch den „Bau-Turbo“. Bei all diesen Vereinfachungsversuchen werden nicht etwa die hochdetaillierten und kostentreibenden DIN-Normen für Bauprodukte aufs Nötigste beschränkt, sondern vor allem Umwelt- und Bürgerbeteiligungsrechte beschnitten. Der Naturschutzbund Nabu hat deshalb das Berliner „Schneller-Bauen-Gesetz“ zum „Dinosaurier des Jahres 2024“ gekürt.
Anreize zum Bauen gibt es in Form von Fördergeldern durchaus, doch werden diese allzu oft abgelehnt, wenn sie mit Auflagen verbunden sind. So wehrten sich die wohnungswirtschaftlichen Verbände gegen die Wiedereinführung der Wohngemeinnützigkeit, die ihnen erhebliche Steuererleichterungen gewährt, aber auch eine soziale Vermietungspraxis abverlangt.

Illustration: Julia Gandras
Neubau- und Sanierungsförderprogramme werden von der Privatwirtschaft kaum genutzt. In Berlin werden geförderte Sozialwohnungen fast ausschließlich von den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften errichtet. Wo private Bauherren vertraglich zum Bau eines Sozialwohnungs-Anteils verpflichtet sind, geben sie diese Aufgabe meist an ein landeseigenes Unternehmen weiter.
Das Berliner Förderprogramm für energetische Modernisierungen wurde 2023 gerade einmal zur Hälfte ausgeschöpft, 2024 zeichnet sich eine noch geringere Nachfrage ab. Außer einer Genossenschaft haben nur städtische Wohnungsunternehmen das Angebot genutzt. Private haben die Förderung völlig verschmäht, obwohl die Auflagen gering sind. Durch die gedeckelten Mieten seien die Modernisierungen nicht finanzierbar, lautet der Einwand. Senator Christian Gaebler (SPD), sonst nicht als Kritiker der Baubranche bekannt, entgegnete im rbb-Inforadio: „Es wird nicht funktionieren, dass wir ein Rundum-Sorglos-Paket für Immobilieneigentümer schnüren.“ Durch die Sanierung würde schließlich auch der Wert der Wohnungen steigen. Solange es sich für die freie Immobilienbranche betriebswirtschaftlich lohnt, teure Wohnungen zu bauen, werden sie finanzielle Anreize, die mit „unattraktiven“ Sozialauflagen verknüpft sind, links liegen lassen. Die öffentliche Hand könnte das Geld lieber gleich den kommunalen Unternehmen geben, um damit dauerhaft preiswerten Wohnraum zu schaffen.
Jens Sethmann
5. Gegen hohe Mieten hilft nur Bauen, bauen, bauen
Der Slogan „Bauen, bauen, bauen“ wird oft als Königsweg für die angespannten Wohnungsmarktverhältnisse propagiert, doch die Realität zeigt, dass dieser Ansatz die Situation auf dem Mietmarkt nicht entscheidend verbessert.
Zwar bleibt der Neubau ein wichtiger Bestandteil der Lösung, aber die derzeitige Marktsituation stellt hohe Hürden, die das Vorhaben erheblich einschränken. So blieb die Zahl der tatsächlich gebauten Wohnungen weit hinter dem Ziel der Ampel-Koalition von 400.000 Wohnungen pro Jahr zurück: Von 2021 bis 2023 konnten laut Statistischem Bundesamt jeweils nur knapp 300.000 Wohnungen fertiggestellt werden. Doch auch gute Zahlen nützen nichts: Frankfurt am Main und München, die beiden Städte mit der höchsten Wohnungsbautätigkeit, sind auch die Städte mit den höchsten Mieten. Für die Zukunft sieht es sogar eher schlechter aus: Aktuelle Prognosen, so vom ifo-Institut, gehen davon aus, dass die Zahl der Neubauten in Deutschland in den kommenden Jahren weiter sinken wird. Vor allem die hohen Baukosten bremsen den Markt hierzulande aus. Die Zahl der neu gebauten Wohnungen könnte im Jahr 2026 auf nur noch 175.000 absinken. Das wären noch einmal über 40 Prozent, die von den knapp 300.000 gebauten Wohnungen des Jahres 2022 abgehen.

luxuriöse Immobilien geht
Illustration: Julia Gandras
Ein zentraler Grund für die Zurückhaltung beim „Bauen, bauen, bauen“ ist die Kombination aus stark gestiegenen Grundstücks- und Baustoffpreisen sowie einem Mangel an Fachkräften. Diese Faktoren verteuern den Neubau erheblich, was sowohl für private Investoren als auch für die öffentliche Hand zu einem Problem wird. Private Bauherren konzentrieren sich verstärkt auf den Bau von luxuriösen Wohnungen, da sich diese aufgrund der höheren Mieten rentieren. Für die breite Bevölkerung, insbesondere für finanzschwache Haushalte, bedeutet dies, dass sie auf dem Markt kaum eine Chance auf erschwinglichen Wohnraum haben. Die Entwicklung zeigt, dass der Slogan „Bauen, bauen, bauen“ eine Lösung nur für einen begrenzten Teil der Bevölkerung darstellt. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum zu behaupten, dass durch intensiven Neubau auch für alle Bevölkerungsgruppen ausreichend bezahlbare Wohnungen geschaffen werden. In Wirklichkeit führt der Fokus auf höhere Gewinnmargen dazu, dass der soziale Wohnungsbau und die Bedürfnisse der weniger privilegierten Mieter stark vernachlässigt werden.
Viel Neubau hilft nicht zwangsläufig allen
Um dem entgegenzusteuern, setzte Bundesbauministerin Klara Geywitz auch auf sozialen Wohnungsbau, durch Private. Allerdings haben private Investoren diese Förderprogramme nur in sehr begrenztem Umfang genutzt, da sie die Bedingungen für nicht rentabel genug halten. Die Zahlen für das Jahr 2023 für Berlin sprechen eine deutliche Sprache: Die städtischen Wohnungsunternehmen hatten mit 3065 bewilligten Wohnungen den mit Abstand größten Anteil am sozialen Wohnungsbau. Private Investoren bauten 356 Wohnungen im sozial gebundenen Sektor. Vom Mythos „Bauen, bauen, bauen“ bleibt nicht viel übrig: Nur wenn das Bauen nicht der ungebremsten Profitmaximierung dient, wirkt es sich positiv auf den allgemeinen Wohnungsmarkt aus. Insgesamt wird die Politik um die Einführung einer echten neuen Wohngemeinnützigkeit nicht herumkommen – finanziert aus öffentlichen Mittel und mit für immer fortbestehender Bindung. Nur so lässt sich sozial gebundener Wohnraum in ausreichender Stückzahl schaffen, der auch bei verstärkter Nachfrage und zyklisch bedingten Marktdefiziten nicht zu einer Versorgungskrise derzeitigen Ausmaßes führt.
Stefan Klein
6. Das NIMBY-Syndrom – Der Wohnungsbau wird durch renitente Nachbarn verhindert
Nachverdichtungen in bestehenden Siedlungen und innerstädtische Lückenschließungen gelten als ökonomische und flächensparende Form des Wohnungsbaus. Nachbar:innen sind allerdings nicht immer begeistert, wenn ihnen ein Neubau vor die Nase gesetzt werden soll, dem eventuell noch Bäume oder ein Spielplatz weichen müssen. Es ist das Recht eines jeden Menschen, Widerspruch gegen ein Bauprojekt zu erheben. Die Belange der Nachbarschaft müssen in einer demokratischen Stadt- und Bauplanung berücksichtigt werden, auch wenn man es nicht allen recht machen kann.
Wenn Nachbar:innen gegen ein Bauvorhaben protestieren, wird ihnen oft unterstellt, es gehe ihnen nur um die Bewahrung ihres eigenen kleinen Vorgärtchens und ihrer gemütlichen Kiezseligkeit, ohne die Notwendigkeit des Wohnungsbaus zu sehen. Die Haltung wird als „NIMBY“ bezeichnet: „Not in my back yard“ („Nicht in meinem Hinterhof“).

Illustration: Julia Gandras
Der Vorwurf steht schnell im Raum, wenn sich auch nur leiser Widerspruch regt. Laut IBB-Wohnungsmarktbarometer ist „Widerstand gegen neue Bauvorhaben“ das fünftgrößte Problem im Mietwohnungsbau. Die befragten Experten beklagten dies deutlich häufiger als zum Beispiel fehlendes Bauland, den Fachkräftemangel auf dem Bau oder die Klimaschutzanforderungen.
Der Vorwurf, dass Nachbarschaftsproteste den Wohnungsbau verhindern, verkennt die Kräfteverhältnisse vollkommen. Anwohner:innen haben keine Mittel, Bauvorhaben zu verhindern, nur weil sie sich gestört fühlen. Sie können allenfalls den Naturschutz, das Stadtklima oder soziale Belange ins Feld führen, wenn Bäume gefällt, Grünflächen versiegelt oder Spielplätze beseitigt werden sollen. Nur in den seltensten Fällen haben Nachbar:innen mal ein Bauvorhaben tatsächlich verhindert. Für die Nichtbebauung des Tempelhofer Feldes brauchte es ein Volksbegehren der gesamten Stadt.
Im Prinzip kompromissbereit
In Wirklichkeit sind die meisten Nachbarschaften sogar sehr kompromissbereit und durchaus konstruktiv. So etwa die Initiative „Grüner Kiez Pankow“: Sie wehrt sich gegen Pläne der Wohnungsbaugesellschaft Gesobau, zwei dichtbegrünte Wohnhöfe an der Ossietzkystraße mit 99 Wohnungen zuzubauen und unterstützt einen Alternativvorschlag, der fast ebenso viele Wohnungen ermöglicht, aber den Großteil des alten Baumbestandes und die Spielplätze erhalten würde. Die Gesobau will ihr ursprüngliches Projekt aber weiterhin durchdrücken.
Ähnliches spielt sich in vielen Wohnsiedlungen der 50er bis 70er Jahre ab. Im Berliner Bündnis Nachhaltige Stadtentwicklung (BBNS) haben sich 43 Initiativen zusammengeschlossen, die nicht abstreiten, dass Berlin mehr Wohnraum braucht, aber fordern: „Nachverdichtung und Neubau nicht zu jedem Preis!“ Mehrere der Initiativen haben den Kampf für den Erhalt ihrer wohnungsnahen Grünanlagen schon verloren, weil ihr Anliegen nicht ernst genommen und ihre Kompromissvorschläge einfach beiseite gewischt wurden. So konnten an der Vesaliusstraße in Pankow und an der Bodo-Uhse-Straße in Hellersdorf Anwohnerproteste überhaupt nichts ausrichten. Am Plänterwald hat eine sehr aktive Initiative nach zähen Verhandlungen nur den rücksichtslosesten von vier geplanten Baublöcken verhindern können.
Jens Sethmann
7. Die Alteingesessenen leben mit ihren preiswerten Mieten auf Kosten anderer
Ist die Miete sehr günstig, geht das fast immer einher mit einem alten Mietvertrag. Vor 25 oder 35 Jahren war der Berliner Mietwohnungsmarkt mit dem heutigen nicht zu vergleichen. Das Mietniveau war allgemein deutlich niedriger als heute. Zudem gab es viele Wohnungen in einem schlechten Zustand, unrenoviert, mit Ofenheizung, oft ohne Bad und nicht selten sogar noch mit der Toilette auf „halber Treppe“. Kohlen in den dritten Stock zu schleppen und in der Küche in einem Planschbecken zu baden war in solchen Wohnungen oft Alltag.
Die Vermieterinnen und Vermieter investierten nichts in die Verbesserung der Wohnungen, sei es, weil sie die Investitionen scheuten oder weil sie die Mittel nicht hatten. Hohe Kreditzinsen taten ein übriges. Man vermietete diese Wohnungen dann lieber in schlechtem Zustand für eine entsprechend günstige Miete.

Illustration: Julia Gandras
Eine Möglichkeit, um diese Situation zu verbessern, schuf der Senat mit dem sogenannten Mietermodernisierungsprogramm. Wer seine Wohnung in Eigeninitiative zum Beispiel mit einem Bad und einer Heizung ausstatten wollte, erhielt von der Bank für Wiederaufbau einen zinsfreien Kredit. Die damit neugeschaffenen Heizungen und Bäder gingen nach Abzahlung des Kredits in das Eigentum der Vermieter über. Die Vermieter:innen ließen sich gerne darauf ein, bekamen sie doch so eine Wertverbesserung ihres Besitzes ohne eigenes finanzielles Zutun. Die Miete durften sie infolge dieser Verbesserung selbstverständlich nicht erhöhen. Für die Mieter:innen lohnte der Aufwand allerdings nur, wenn sie beabsichtigten, für längere Zeit in der Wohnung zu bleiben, damit sich die abbezahlten Kredite für sie amortisierten. Das war den Vermieter:innen natürlich auch bewusst. Lange Zeit, bis in die 2000er Jahre, waren alle Beteiligten mit der Sache zufrieden. Doch dann kam eine Mietpreisexplosion bei Neuvermietungen in Gang. Die Mieten wurden so drastisch angehoben, dass der Quadratmeterpreis schon bald dem Doppelten und mehr der Miete aus den alten Verträgen entsprach. Kein Wunder, dass die Mieter:innen mit den alten Verträgen und günstigen Mieten nicht die Absicht hatten, diese aufzugeben und umzuziehen. Viele hätten es sich schlicht auch nicht leisten können.
Nach drastischem Mietanstieg waren die alten Verträge attraktiv
Für den Mietenmarkt wäre ja auch keinerlei Verbesserung damit verbunden, wenn sie die Wohnung und somit die günstige Miete aufgäben. Bei einer dann folgenden Neuvermietung würde die Vermieterseite die Miete aller Wahrscheinlichkeit nach „anpassen“, also auf das gesetzlich maximal Mögliche anheben. Aus einer günstigen Wohnung wäre ohne weiteres Zutun eine teure Bleibe geworden. Dadurch würde sogar an der allgemeinen Mietenschraube gedreht, denn es hätte auch Einfluss auf den Mietspiegel: Gehen dessen Werte nach oben, erlaubt das auch anderen Vermieter:innen, höhere Mieten einzufordern. Es kann einfach festgestellt werden, dass eine abrupte Anhebung auf die ortsübliche Vergleichsmiete es vielen Mieter:innen unmöglich machen würde, in ihren Wohnungen zu bleiben, ohne dass sich für ihre Nachfolger:innen oder den Mietmarkt irgendetwas bessert.
Stefan Klein
8. Der Milieuschutz konserviert das „Zille-Milljöh“ und lässt Mieter:innen in unzeitgemäßen Wohnverhältnissen hausen
In Milieuschutzgebieten wird die ansässige Bewohnerschaft vor Verdrängung geschützt, indem unter anderem übermäßige Modernisierungsmaßnahmen nicht erlaubt werden, damit die Miete nicht zu stark steigt. Seit die Bezirke vor etwa zehn Jahren begonnen haben, dieses Instrument aus dem Baugesetzbuch verstärkt anzuwenden, laufen Eigentümerverbände und ihnen nahe stehende Politiker:innen Sturm gegen diese Einschränkung ihrer Gewinnaussichten – oft unsachlich und polemisch.
Milieuschutz wird als „politischer Kampfbegriff“ bezeichnet. Die Pankower CDU meinte, mit dem Milieuschutz werde „versucht, den Bestand rechtswidrig zu konservieren“. Der Eigentümerverein „Haus & Grund“ schimpfte über die Milieuschutz-Genehmigungskriterien von Friedrichshain-Kreuzberg auf die „Wohnpolizei“ und ihre „rigiden Vorstellungen darüber, wie Menschen im Bezirk zu wohnen haben“. Dirk Wohltorf, Landesvorsitzender des Immobilienverbands IVD sagte zu den ersten Milieuschutzgebieten von Tempelhof-Schöneberg: „Damit nimmt die Politik in Kauf, dass Wohnungen verfallen, nicht zeitgemäß oder gar nicht modernisiert oder saniert werden und dem Wohnungsmarkt nachher vielleicht gar nicht mehr zur Verfügung stehen.“ Es gehe hier „mit Volldampf zurück in die Vergangenheit“. Der Verband BBU beklagt, dass der Milieuschutz energetische Modernisierungen verhindere: „Falsch verstandener Mieterschutz statt dringend notwendigem Klimaschutz“, urteilt der BBU.

Illustration: Julia Gandras
Immer wieder fällt das Schlagwort „Denkmalschutz für Außenklo und Ofenheizung“, und es werden die elenden Wohnverhältnisse, die Heinrich Zille vor 100 Jahren unter dem Titel „Mein Milljöh“ karikiert hat, an die Wand gemalt.
Wären die Kassandrarufe zutreffend gewesen, dann würden große Teil der Berliner Innenstadt heute schlimme Verfallserscheinungen zeigen. Es gibt inzwischen 81 Milieuschutzgebiete in 11 Bezirken, größtenteils innerhalb des S-Bahn-Rings.
Der Milieuschutz heißt offiziell „soziale Erhaltungsverordnung“. Geschützt werden eigentlich nicht die einzelnen Mieter:innen, sondern die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung. Zu den Modernisierungsmaßnahmen, die im Milieuschutz nicht genehmigt werden, zählen unter anderem die Nachrüstung von besonders teuren Aufzügen, der Einbau eines zweiten Bades, der Anbau von Zweitbalkonen und Wärmedämmungen, die über den gesetzlich geforderten Standard hinausgehen. Auch unnötige Grundrissänderungen und der Abriss von Wohnraum werden unterbunden. Die allgemein übliche Wohnungsausstattung, zum Beispiel der Ersteinbau eines Bades oder einer Zentralheizung, müssen die Ämter aber immer ohne Auflagen zulassen – auch wenn dies allein oft schon hohe Mietsteigerungen verursacht.
Klimaschutz und Mieterschutz schließen sich nicht aus
Es kann also überhaupt keine Rede davon sein, dass der Milieuschutz Substandard-Wohnungen schützt. Man kann ihm auch nicht vorwerfen, Barrierefreiheit zu verhindern, denn die nicht genehmigungsfähigen nachträglich angebauten Aufzüge hätten ihre Zugänge in aller Regel auf halber Treppe und wären somit allenfalls ein Bequemlichkeitsgewinn. Der Vorwurf, der Milieuschutz erschwere den Klimaschutz, ist ebenso fadenscheinig, denn nur in den seltensten Fällen wollen Vermieter:innen über die energetischen Mindestanforderungen hinaus modernisieren – beklagt doch die Immobilienwirtschaft ständig, die Klimaanforderungen seien viel zu hoch.
Jens Sethmann
9. Wohneigentum löst Probleme am Mietwohnungsmarkt
Die Legende von der Entlastung des Mietwohnungsmarktes durch Wohneigentum durchzieht die Geschichte der Bundesrepublik: Mit einer ersten steuerlichen Abzugsfähigkeit von Investitionen im selbstgenutzten Eigentum, beschlossen 1951, und der bald darauf eingeführten Wohnungsbauprämie begann die große Ära der Eigentumsförderung. Sie sollte eine Antwort auf die dramatische Wohnungsnot nach Kriegsende sein und es dem Mittelstand ermöglichen, Eigenheime zu bauen, Vermögen zu bilden – aber auch Mietwohnungen für ärmere Haushalte freizumachen.
Gerade dieses Kalkül ging nie wirklich auf. Dennoch wurden immer neue Förderprogramme aufgelegt. Zu einem der finanzstärksten gehörte die Eigenheimzulage (1995-2005), die auf mehr Wohneigentum in Ostdeutschland zielte. 2006 resümierte ein Gutachter des Institutes der deutschen Wirtschaft (IW): Eine hohe Wohneigentumsquote würde immer als Erfolg hingestellt, obwohl damit auf der anderen Seite ein schwach ausgeprägter Mietwohnungsmarkt einhergehe.
Für Einkommensschwache ist derzeit ein Immobilienkauf illusorisch
„Die Behauptung, Wohnungseigentum löse alle Probleme, ist ein Trugschluss“, schätzt auch der Soziologe und Stadtforscher Armin Hentschel ein. „Im Gegenteil – die vorrangige Förderung und damit Attraktivität von Wohneigentum geht immer zu Lasten von Mietern, wie man beim Thema Umwandlung und Eigenbedarf sieht.“
Und das nur zu deutlich: Zwischen 2013 und 2023, wurden in Berlin über 157.000 Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt. Für jene, die zur Miete leben, eine bedrohliche Entwicklung, selbst wenn sie erst einmal ein Vorkaufsrecht haben.

Illustration: Julia Gandras
Armin Hentschel: „Bei den derzeitigen Marktpreisen ist jeder Gedanke an einen Immobilienkauf für Einkommensschwächere völlig unrealistisch!“
Sehr viel realer dagegen ist die Eigenbedarfskündigung, nicht selten vorgebracht unter fadenscheinigen Gründen. BMV-Beratungs-Statistiken zeigen einen bedrohlichen Trend: Seit 2019 suchten 5867 Mitglieder rechtlichen Beistand wegen einer Eigenbedarfskündigung. Tendenz: steigend.
„Die schlimmsten Auswüchse erleben wir bei privaten Vermietern, weil sie auf Verschuldung und ein unberechenbares Zinsumfeld angewiesen sind“, erklärt Armin Hentschel. In ihrem Wohnmarktreport Berlin 2024 stellten der Immobilienfinanzierer Berlin Hyp und der globale Immobiliendienstleister CBRE fest: Private Kleinvermieter setzten immer stärker auf möblierte Wohnungen – eben auch, um den Kapitaldienst der Finanzierung bedienen zu können. Das habe nicht nur deutlich gestiegene Mietpreise zur Folge, sondern führe auch zu einem drastischen Rückgang an freien unmöblierten Mietwohnungen.
Rosemarie Mieder
10. Es gibt kein Recht auf Wohnen in der Innenstadt
Der prominenteste Vertreter dieser These war Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister von 2001 bis 2014. In seiner Amtszeit hat Berlin zehntausende landeseigene Wohnungen verkauft, die Anschlussförderung für Sozialwohnungen gestrichen und zur „Marktbereinigung“ 3000 kommunale Plattenbau-Wohnungen abgerissen. Der anfangs noch entspannte Berliner Wohnungsmarkt entwickelte sich in dieser Zeit zu einer Spielwiese von Immobilien-Heuschrecken, Mietpreistreibern, Eigentumsumwandlern und Betongold-Spekulanten.
Ein Recht auf Wohnen in der Innenstadt ist in keinem Gesetz festgeschrieben. Das Grundgesetz kennt überhaupt kein Recht auf Wohnen. In der Berliner Landesverfassung heißt es aber immerhin: „Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum.“

Illustration: Julia Gandras
Auch die SPD-Stadtentwicklungssenatoren Michael Müller und Andreas Geisel ließen sich 2012 beziehungsweise 2015 mit dem Ausspruch zitieren: „Es gibt kein Recht auf Innenstadt.“ Wo dieser Satz fällt, dient er meistens zur Rechtfertigung von Verdrängungsprozessen. Leute, die wegen Mietsteigerungen gezwungen sind, ihre zentrumsnahe Wohnung aufzugeben und an den Stadtrand zu ziehen, sollen sich nicht beschweren. Dem liegt eine rein kapitalistische Sichtweise auf die Stadt zugrunde: Zentrale Stadtviertel haben die höchste Lagegunst und müssen deshalb am teuersten sein. Für Menschen mit genug Geld existiert ein Recht auf Innenstadt – es ist käuflich.
Kampfansage an das wohnungspolitische Erbe
In Berlin ist der Spruch, es gäbe kein Recht auf Innenstadt, auch eine Kampfansage an das wohnungspolitische Erbe von Ost- und West-Berlin. Die DDR hat ganz selbstverständlich auch rund um den Alexanderplatz viele Wohnungen gebaut. In West-Berlin gehörten Wedding, Moabit, Kreuzberg und Nord-Neukölln zu den billigsten und unbeliebtesten Wohngegenden, so dass der Senat mit der Internationalen Bauausstellung 1984/87 versuchte, durch den Bau von Sozialwohnungen „die Innenstadt als Wohnort“ wiederzugewinnen. Mit diesen „unnormalen“ Vorwende-Zuständen soll nun Schluss sein.
„Es gibt kein Recht auf Innenstadt“ ist für Politiker:innen auch eine bequeme Ausrede, um nichts gegen die galoppierende Segregation der Stadt unternehmen zu müssen. In Paris oder London – oft als Vorbild-Metropolen für Berlin hingestellt – kann man sehen, wohin es führt, wenn man eine Stadt ganz den Kräften der Marktwirtschaft überlässt: Die City ist ein reines Geschäfts- und Touristenviertel, Normalverdiener können sich im Stadtgebiet angemessenen Wohnraum nicht mehr leisten, müssen weit außerhalb der Stadt wohnen und sich täglich in endlose Pendlerströme einreihen, während Arme ihr Dasein in Großsiedlungen fristen – mit großen Mängeln in Infrastruktur und Bausubstanz. Für die „Berliner Mischung“, derer man sich in dieser Stadt so gern rühmt, ist der Satz „Es gibt kein Recht auf Innenstadt“ ein Schlag ins Gesicht.
Jens Sethmann
25.01.2025