Deutschlands erste Plattenbausiedlung entspricht so gar nicht der Vorstellung, die man gemeinhin von der Platte hat. Wer von der Sewanstraße mit seinen massiven Zehngeschossern in die ruhige Splanemannstraße einbiegt, stößt auf zweigeschossige Häuschen mit Sprossenfenstern, Satteldächern und Vorgärten. Die kleine Siedlung in Lichtenberg, Ortsteil Friedrichsfelde, bietet noch heute attraktives Wohnen.

Foto: wikipedia/Marsupium
Das Wohnkarree zwischen Splanemannstraße, Ontariostraße und Friedenhorster Straße wirkt wie eine Reihenhaussiedlung. Rotdornbäume säumen die kleinen Straßen, hinter den Häusern blühen Fliederbüsche. Die überwiegend rot gestrichenen Häuschen erinnern an holländische Wohnviertel. Das ist kein Zufall, denn der damalige Stadtbaurat Martin Wagner, unter dessen Regie die Siedlung 1926 entstanden ist, hatte sich vom Amsterdamer „Betondorp“ inspirieren lassen, ebenfalls ein Experiment des Sozialen Wohnungsbaus mit dem Ziel, möglichst kostengünstig zu bauen. Die Kriegerheimstättensiedlung, wie sie ursprünglich hieß, wurde für Kriegsversehrte des Ersten Weltkriegs und ihre Angehörigen gebaut. Bauherr war die Gemeinnützige Reichsbundkriegersiedlung GmbH.
Die insgesamt 138 Wohnungen sollten ein bezahlbares Wohnen in grüner Umgebung bieten. Wagner, Architekt und Stadtplaner, gilt als politischer Vordenker des „Neuen Bauens“ in Berlin. Der überzeugte Sozialdemokrat war Verfechter einer dem Gemeinwohl verpflichteten „sozialen Bauwirtschaft“.

Foto: Nils Richter
Und wie wohnt es sich hier, fast 100 Jahre später? „Idyllisch und beschaulich, fast dörflich“, sagt Gabriela Berger: „Ich fühle mich hier sehr wohl.“ Die Wohnungen sind gut geschnitten, jede verfügt über einen Balkon oder eine Loggia und in Gabriela Bergers Fall auch über einen geräumigen Keller. Die Infrastruktur ist perfekt, findet sie: „Verkehrsanbindung, Kita, Schulen, Supermärkte, Arztpraxen – alles, was man als Familie braucht, ist in der Nähe.“ 2001 ist sie mit Mann und Tochter in die Dreieinhalbzimmerwohnung eingezogen – zu Zeiten, als man leerstehende Wohnungen noch beim Spaziergehen fand und dann gleich unter mehreren wählen konnte. Das Highlight ist jedoch der Garten hinter dem Haus. „Das ist schon etwas ganz Besonderes, und ich genieße das sehr“, sagt Gabriela Berger.
Odyssee der Siedlung nach der Wende
Einziger Wermutstropfen: der Umgang mit der Vermieterin. „Das ist kein Zuckerschlecken“, seufzt Gabriela Berger. Ihre Nachbarin Ramona B. musste mit ihren beiden Kindern sechs Monate lang ohne warmes Wasser auskommen. Erst als sie einen Rechtsanwalt beauftragte, wurde der Schaden behoben. Auch andere im Haus berichten von gerichtlichen Auseinandersetzungen wegen ungerechtfertigter Mieterhöhungen und von Mängeln, die monatelang nicht repariert werden. „Am Telefon wird man unverschämt behandelt, und auf Briefe oder Mails bekommt man nicht einmal eine Antwort“, sagt ein anderer Mieter. Immerhin: Die Mieten sind vergleichsweise moderat, auch bei Neuvermietung. 563 Euro nettokalt zahlt Gabriela Berger für ihre 81 Quadratmeter große Wohnung – nach erfolgreicher Abwehr der letzten Mieterhöhungsforderung.

Foto: Nils Richter
Nach der Wende wurde die Siedlung zwar an den ursprünglichen Eigentümer, den „Sozialverband Reichsbund der Kriegs- und Wehrdienstopfer“ rückübertragen. Doch der sah sich mit der notwendigen Sanierung überfordert. Zu diesem Zeitpunkt war der Verfall der Siedlung schon unüberschaubar. Die Wohnungsbaugesellschaft Lichtenberg, die die Wohnungen bis dahin verwaltete, hatte mit Hinweis auf die ungeklärten Eigentumsverhältnisse nur noch das Nötigste gemacht. Es kam zur Versteigerung, und der älteste Plattenbau Deutschlands wurde 1997 für 6,4 Millionen Euro an den Meistbietenden, eine Karlsruher Unternehmerfamilie verkauft. Der Vorgang sorgte für erheblichen Wirbel. Der damalige PDS-Bezirksbürgermeister sprach von einer „Schweinerei“, zumal die Wohnungsbaugesellschaft Lichtenberg ebenfalls Interesse geäußert hatte, die Wohnungen zu kaufen. Der Reichsbund hatte der neuen Eigentümerin eine zügige Sanierung zur Auflage gemacht, und zwar mit öffentlichen Fördermitteln. Stattliche 24 Millionen Mark waren bereits zugesagt worden.
„Wenn man Hilfe braucht, sind die Leute da“
Jens Machmüller hat die Sanierung miterlebt. „Das war schon eine Zumutung, sieben Jahre lang hat sich das hingezogen, von 1998 bis 2005“, sagt der Mieter. Als er 1996 zu seiner damaligen Freundin gezogen war, hatte die Zweieinhalbzimmerwohnung noch Kachelöfen. Er hat viel in die Wohnung investiert, eine Gasetagenheizung eingebaut und die Küche modernisiert. „Man muss schon viel selber machen, anders geht es nicht“, sagt er und erzählt, dass er auch schon mal an Weihnachten mit Hilfe des Hausmeisters einen Rohrbruch reparieren musste: „Darauf, dass die Vermieterin etwas unternimmt, kann man lange warten“, sagt er. Trotz alledem: Der Umzug von Friedrichshain in die Splanemann-Siedlung sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen. Verkehrsanbindung, Einkaufsmöglichkeiten, die Garage – alles sei perfekt. Auch die Nachbarschaft sei gut. „Wenn man Hilfe braucht, sind die Leute da.“ Und dann natürlich der eigene Garten. Von seiner Küche aus blickt er in eine grüne Oase mit Fliederbüschen und Pavillon. Außerdem schätzt der Mieter die geringe Anzahl an Wohneinheiten pro Haus. „Dadurch ist es nicht so anonym, ich könnte gar nicht mehr in einem großen Haus mit Dutzenden von Nachbarn wohnen.“
Für Architekturfans und Plattenbau-Nerds ist die Splanemann-Siedlung ein Muss, gerade weil der Kontrast zu den umliegenden Plattenbaugroßsiedlungen nicht größer sein könnte. Es blieb ein Experiment, das in dieser Form keine Nachahmer fand.
Birgit Leiß
Die Wege der Platte
Als Geburtsstunde der industriellen Plattenbauweise hat die von 1926 bis 1930 gebaute Splanemann-Siedlung Architekturgeschichte geschrieben. Martin Wagner, 1926 zum Stadtbaurat von Groß-Berlin berufen, wollte möglichst schnell und kostengünstig bauen und setzte auf ein experimentelles Verfahren: Nach amerikanischem Vorbild wurden die Betonplatten direkt auf der Baustelle gegossen und mittels Portalkran montiert. Dass das Ganze im Nachhinein als Flop gilt, hat mehrere Gründe. Zum einen erwies sich der Kran als größter Kostenfaktor. Weil das Gelände sehr verwinkelt war, musste er oft umgestellt werden und die Platten konnten nicht gleichzeitig gegossen werden. Zudem war die Bauserie zu klein, um wirklich Kosteneinsparungen zu erzielen. Dazu kam, dass Wagner einen bereits bestehenden Entwurf im konventionellen Mauerwerksbau für die Plattenbauweise umarbeiten ließ. Die Plattenbauweise, so schreibt Benedikt Hotze vom Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA), ist keine austauschbare Bautechnik, sondern verlangt von vornherein nach einer spezifischen konzeptionell-gestalterischen Vorstellung. Nur dann könnten die Ergebnisse ansprechend werden und auch Kosten einsparen.

Foto: Museum Lichtenberg
Im Zweiten Weltkrieg wurde eine Häuserzeile mit 20 (von ursprünglich 138 Wohnungen) zerstört und nicht wieder aufgebaut. Anfang der 1950er Jahre wurde die Siedlung nach dem 1945 hingerichteten Widerstandskämpfer Herbert Splanemann benannt. Seit 1981 steht sie unter Denkmalschutz.
bl
30.05.2025