Immer mehr Menschen, die Bürgergeld, Grundsicherung oder eine ähnliche Leistung beziehen, müssen einen Teil der Miete aus eigener Tasche zahlen. Statt endlich realistische Richtwerte für die Wohnkosten festzusetzen, werden die Betroffenen systematisch in die Schwarzarbeit oder Verschuldung getrieben.

Das Jobcenter spart es sich, die besonderen Umstände eines Einzelfalls zu prüfen
Foto: Christian Muhrbeck
543 Euro bruttokalt für eine Zweizimmerwohnung? 752 Euro für eine Vierzimmerwohnung? Finden sich solche Mietpreise in Berlin tatsächlich noch, vor allem wenn man eine Wohnung neu anmieten muss? Die Senatsverwaltung für Soziales hält diese seit 1. Oktober 2023 geltenden Richtwerte für angemessen. Doch die Zahlen belegen: Immer mehr Leistungsbeziehende liegen darüber (siehe unten). Die mit Einführung des Bürgergelds Anfang 2023 praktizierte Karenzregelung, wonach bei Neuzugängen zwölf Monate lang die tatsächliche Miete übernommen wurde, ist zum Januar 2024 ausgelaufen. Seitdem bekommen immer mehr Betroffene, die die festgelegten Angemessenheitsgrenzen gemäß AV (Ausführungsvorschrift) Wohnen überschreiten, Kostensenkungsaufforderungen. Sie sollen entweder in eine günstigere Wohnung umziehen oder untervermieten. Eigentlich, so Michael Breitkopf von der Sozialberatung Friedrichshain, müssten die Jobcenter ein aufwendiges Kostensenkungsverfahren durchführen. Dabei wird unter anderem geprüft, ob soziale Härtegründe oder andere besondere Umstände vorliegen. Wer beispielsweise nachweisen kann, dass er oder sie sich intensiv um eine andere Wohnung bemüht, bleibt verschont. „Aber das sparen sich die Jobcenter und deckeln ohne Kostensenkungsverfahren“, so Breitkopfs Erfahrung.
Mit der Preisentwicklung halten Berliner Behörden nicht Schritt
Das Problem sind die völlig unrealistischen Obergrenzen. Während in Köln 677 Euro für einen Single-Haushalt und 820 Euro für einen Zweipersonen-Haushalt übernommen werden, sind es in der Hauptstadt 449 beziehungsweise 543 Euro (für den Sozialen Wohnungsbau gelten absurderweise höhere Miet-Richtwerte). Sogar Hannover hat mit 499 und 587 Euro höhere Obergrenzen (jeweils bruttokalt). „In Berlin war die Ausgangssituation das Niedrigpreisniveau der 2000er Jahre“, sagt Michael Breitkopf. Zwar werden die Richtwerte regelmäßig auf Grundlage des aktuellen Mietspiegels erhöht, aber mit der rasanten Mietpreisentwicklung haben sie nicht Schritt gehalten. Michael Breitkopf berichtet von verzweifelten Ratsuchenden, die irgendwann zwangsgeräumt werden, wenn sie die Differenz zur Miete nicht mehr selber aufbringen können. Sie landen dann in menschenunwürdigen Not-Unterkünften, wo die öffentliche Hand 3000 Euro und mehr im Monat zahlt.
Das Absurde: die Sozialgerichte interessiert die AV Wohnen gar nicht. So wurde durch mehrere Gerichtsinstanzen entschieden, dass die AV Wohnen kein schlüssiges Konzept zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenzen darstellt, zuletzt vom Bundessozialgericht (BSG vom 3. September 2020 – B 14 37/19). Seitdem werden die Werte der Wohngeld-Tabelle plus ein Aufschlag von zehn Prozent zugrundegelegt. So kommt man zum Beispiel bei einem Einpersonen-Haushalt auf eine Obergrenze von 562 Euro bruttokalt. Neben diesen abstrakten Richtwerten ist darüber hinaus im Einzelfall zu prüfen, ob individuelle Härten vorliegen. „Wer sich gegen die Richtwerte des AV Wohnen wehrt, bekommt vor Gericht fast immer recht“, sagt Julian Hölzel, der im Auftrag des Berliner Mietervereins die Sozialrechtsberatung macht. Das Problem: Aus Unkenntnis ziehen die wenigsten vor Gericht – und das hat System, wie nicht nur Hölzel glaubt.
Die neue Regierung hat bereits angekündigt, am Bürgergeld und an den hohen Wohnkosten zu sparen. Das verheißt Betroffenen nicht Gutes.
Birgit Leiß
Die Wohnkostenlücke
2024 überschritten bundesweit rund 339.000 Bürgergeld-Haushalte mit ihren tatsächlichen Unterkunftskosten (Miete und Heizen) die anerkannten Sätze. Das sind 11,6 Prozent der insgesamt rund 2,39 Millionen Bedarfsgemeinschaften – so das Ergebnis einer Anfrage der Linken-Abgeordneten Caren Lay. Im Vorjahr waren es noch 320.000 Haushalte gewesen. Im Schnitt mussten 118 Euro pro Monat aus eigener Tasche, also durch Einsparung an anderer Stelle der Haushaltskosten, draufgezahlt werden (im Vorjahr: 103 Euro).
bl
29.05.2025