Vor 45 Jahren startete in Kreuzberg die erste eigentümerunabhängige Mieterberatung. Damit wurden die Interessen der sanierungsbetroffenen Mieter:innen wohl erstmals wirklich ernst genommen – ein unverzichtbarer Teil der behutsamen Stadterneuerung.

Foto: Michael Hughes
Vor 1980 wurden die Mieter:innen eher als Objekte im Prozess der Stadterneuerung angesehen. Als Sanierung noch „Abriss und Neubau“ bedeutete, galten die Altbau-Bewohner:innen vor allem als Hindernis für die schnelle Abwicklung der Sanierung. Nach dem 1971 beschlossenen Städtebauförderungsgesetz waren zwar für die unmittelbar Betroffenen Sozialpläne vorgesehen. Doch in der Berliner Praxis sah das so aus, dass die als Sanierungsträger eingesetzten Wohnungsbaugesellschaften versuchten, den Abrissmieter:innen einen Umzug in ihre Neubausiedlungen schmackhaft zu machen. Dazu gab es regelrechte Werbe-Bustouren. So wurden den Leuten aus dem Charlottenburger Sanierungsgebiet Klausenerplatz die Vorzüge der Neubauwohnungen auf dem Falkenhagener Feld vorgeführt, für die Weddinger:innen gingen die Werbefahrten ins Märkische Viertel. Ob die Mieter:innen sich die Neubauwohnungen leisten konnten oder ob sie überhaupt umziehen wollten, fragte niemand.
Die Sanierungsbetroffenen hatten dem auch wenig entgegenzusetzen, denn es drohte ihnen die zwangsweise Aufhebung des Mietverhältnisses: Wenn der Abriss des Gebäudes geplant war, konnte die Stadt nach dem Städtebauförderungsgesetz auf Antrag des Eigentümers die Mietverträge mit einer sechsmonatigen Frist beenden.

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Der Unmut über diese Kahlschlagsanierung über die Köpfe der Bewohnerschaft hinweg wurde im Laufe der 70er Jahre immer größer. Bausenator Harry Ristock (SPD) gab daraufhin der Sanierungspolitik ab 1977 schrittweise eine neue Richtung: Ein Wettbewerb „Strategien für Kreuzberg“, das Zukunftsinvestitionsprogramm (ZIP) und die Ausrufung der Internationalen Bauausstellung (IBA) waren der Anfang für eine sogenannte behutsame Stadterneuerung. In den Häusern, die mit ZIP-Geldern modernisiert werden sollten, wurden im Herbst 1978 erstmals testweise die Wünsche der Mieter:innen ermittelt und dafür gesorgt, dass sie im Sanierungsplan auch berücksichtigt wurden. Aufgrund der guten Erfahrungen beschloss der Senat 1980, für die Betroffenen des neu angelaufenen Landesmodernisierungsprogramms (LaMod) eine solche Vorgehensweise auch zu finanzieren. Im Januar 1980 startete der aus einer Bürgerinitiative hervorgegangene Verein SO 36 mit zwei festangestellten Beraterinnen die erste dauerhafte Mieterberatung, die unabhängig von Hauseigentümern und Sanierungsträgern war. Zuständig war die Beratung für das sogenannte Strategiengebiet SO 36, also den Osten Kreuzbergs.
Lieber mit Ofenheizung als wegziehen
„Wir sind in die Häuser gegangen, haben uns die Wohnungen angesehen und mit den Mietern gesprochen“, erinnert sich Maren Schulze, eine der beiden ersten Mieterberaterinnen. Das war damals ein völlig neuer Ansatz. Nach einem Jahr zog man eine Zwischenbilanz: Die große Mehrheit der Sanierungsbetroffenen wollte trotz vielfältiger Wohnungsmängel nicht woanders hinziehen. 78 Prozent wünschten sich, in ihrer Wohnung, im Haus oder wenigstens in unmittelbarer Nähe zu bleiben. Fast die Hälfte wollte sogar lieber den alten Standard mit Ofenheizung behalten und allenfalls den Einbau einer Innentoilette befürworten – nicht aus nostalgischen Gründen, sondern weil sie eine vollmodernisierte Wohnung nicht hätten bezahlen können.
Die IBA richtete ihr Konzept der behutsamen Stadterneuerung nach den Interessen der Mieter:innen aus. „Es kam darauf an, die Voraussetzungen für deren Bleiben zu schaffen“, erklärte IBA-Altbau-Chef Hardt-Waltherr Hämer. „Das kann zum Beispiel auch den Verzicht auf Zentralheizung und Beibehaltung der Ofenheizung bedeuten.“

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Dass es für das Sanierungsgebiet Kottbusser Tor zunächst keine Mieterberatung gab, nannte der dortige Betroffenenvertreter und spätere Kreuzberger Baustadtrat Werner Orlowsky „ein ungeheuerlich skandalöses Defizit“. 1981, auf dem Höhepunkt der Hausbesetzungswelle, setzte der Senat einen Rahmenvertrag auf: Die Mieterberatungen sollten nicht nur die Sanierungsbetroffenen über ihre Rechte aufklären, sondern auch ihre Bedürfnisse ermitteln, daraufhin Sozialpläne erstellen und auch deren Umsetzung begleiten. In den Bezirken mit Sanierungsgebieten wurden sechs teilweise neu gegründete Mieterberatungsgesellschaften mit anfangs rund 25 Mitarbeiter:innen tätig.
Die nun fest eingebundene Mieterberatung bedeutete eine erhebliche Beschneidung der bisherigen Eigentümermacht. „Vor allem die Sanierungsträger, die immer der Meinung waren, dass sie das Beste für ihre Mieter tun, versuchten mit Hilfe des Senats die Kompetenzverlagerung wieder rückgängig zu machen“, stellten die Stadtplaner Rainer Bohne und Erwin Zint 1989 fest. So hatte die Eigentümerseite erfolgreich bewirkt, dass nach den Modernisierungs- und Instandsetzungsrichtlinien von 1985 „einfache Maßnahmen“ im Umfang bis 60.000 Mark pro Wohnung ohne Mieterberatung durchgeführt werden durften. In der Folge wurden viele Baumaßnahmen beantragt, die wundersamerweise 59.999 Mark kosten sollten. Im Laufe der 80er Jahre begann es sich angesichts der wachsenden Wohnungsnot auch zu lohnen, ohne staatliche Fördergelder zu modernisieren. In solchen Fällen war die Beteiligung der Mieterberatung nicht vorgeschrieben.
Mieterberatung im Fokus der Systemkritiker
Zuweilen wurde die Rolle der Mieterberatung als Teil des Sanierungsapparats aber auch hart kritisiert: „Verein SO 36 Hand in Hand mit Staat und Kapital“, war zum Beispiel an einer Kreuzberger Hauswand zu lesen. Im Konflikt mit Hausbesetzer:innen, die Wohnungen von Sanierungsbetroffenen in Beschlag genommen hatten, wurde die Mieterberatung zur Zielscheibe für Bedrohungen und Anschläge. Monatelang mussten die Mitarbeiter:innen hinter verrammelten Fenstern arbeiten, weil die Scheiben immer wieder eingeworfen wurden.

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Nach dem Wendejahr 1989 richtete sich die Stadterneuerung stark auf den Ostteil aus. In Kreuzberg konnte der Verein SO 36 nur noch sechs seiner 18 Stellen erhalten und musste zwei seiner drei Läden schließen. Ein Teil der Belegschaft wechselte nach Prenzlauer Berg und baute für die dortigen Sanierungsgebiete eine Mieterberatungsgesellschaft auf. Auch aus den anderen Bezirken setzte eine Ostwanderung ein. So wurde die Tiergartener ASUM in Friedrichshain tätig, das Weddinger BfsS betreute die Sanierungsgebiete in Mitte und die Schöneberger SPAS beriet auch in Weißensee.
Selbst nach der Abwicklung der ersten großen Nachwende-Sanierungsgebiete bleibt für die Mieterberatungsgesellschaften noch einiges zu tun. So überwachen sie bei den Häusern, die mit öffentlichen Fördergeldern saniert wurden, die Einhaltung der Mietpreisbindung und koordinieren die Belegung der Wohnungen mit dazu berechtigten Mietparteien. Da die Bindungen aber nur 20 bis 30 Jahre gelten, schwindet diese Aufgabe aktuell zusehends.
Jens Sethmann
Dienstleister:innen für ein soziales Berlin
Die Mieterberatungsgesellschaften sind heute auch Sozialforscher, die oft von den Bezirksämtern mit Studien beauftragt werden, etwa für die Frage, ob ein Kiez unter Milieuschutz gestellt werden soll, oder die soziale Lage der Bewohnerschaft ermittelt werden muss. Sie führen auch Bürgerbeteiligungsverfahren durch oder organisieren für Wohnungsbaugesellschaften den Ablauf von Haussanierungen. Manche haben ihre Tätigkeit auch auf das Quartiersmanagement ausgeweitet. Seit 2018 bieten auch alle Bezirke offene und kostenlose Mieterberatungssprechstunden an. Die meisten Bezirksämter haben damit die bewährten Expert:innen beauftragt, die zum Teil mit dem Berliner Mieterverein zusammenarbeiten.
js
07.05.2025